HSBI-Forscherin Melina Gurcke untersucht die Integration regenerativer Quellen ins elektrische Netz
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Immer mehr Energie in Deutschland stammt aus erneuerbaren Quellen. Doch Sonnenlicht, Wind und Wasser sind volatil, das heißt sie stehen nicht konstant zur Verfügung. Damit eine hohe Zuverlässigkeit und Versorgungssicherheit auch weiterhin gewährleistet werden können, untersuchen Forscher:innen an der HSBI die Integration neuer Stromerzeuger und –verbraucher. Eine davon ist Doktorandin Melina Gurcke, die unter anderem im Projekt InCamS@BI daran forscht, wie regenerative Energien zu einer zirkulären Wertschöpfung beitragen können.
Bielefeld (hsbi). „Ja klar, jeder kennt elektrische Energie oder auch Strom als physikalische Größe aus dem Physikunterricht – und natürlich von zuhause, aus der Steckdose. Aber ein Gespür für Energiemengen und Leistungen zu haben, ist schwieriger. Wir können ja mal gemeinsam schätzen: Wie viel Energiebedarf hat ein Vier-Personenhaushalt pro Jahr? Welche Leistung braucht ein Backofen? Ein Laptop? Eine Wallbox für E-Autos?“, fragt Melina Gurcke in die Runde. Die Elektrotechnikerin aus der Hochschule Bielefeld (HSBI) spricht im Rahmen der Veranstaltung „Science After Work“ mit einem Laien-Publikum was „Energie“ angeht. Aber die 27-Jährige führt ihre Zuhörer:innen gekonnt durch ihr Lieblingsthema. Melina Gurcke hat im Bachelor Regenerative Energien studiert und im Master Elektrotechnik mit dem Schwerpunkt Intelligente Energiesysteme. Jetzt promoviert sie bei Prof. Dr. Ing. Jens Haubrock in der Arbeitsgruppe Netze und Energiesysteme „AGNES“ am ITES, dem Institut für Technische Energie-Systeme an der HSBI und arbeitet als Technologiescout im Transferprojekt InCamS@BI, dem Innovation Campus for Sustainable Solutions der HSBI und Universität Bielefeld.
„Eine Wallbox benötigt drei bis vier Mal so viel Leistung wie ein Backofen“
Das Publikum rät, die 27-Jährige löst auf: „Der Haushalt verbraucht 3.000 bis 4.500 Kilowattstunden Strom. Die Leistung eines Backofens liegt bei drei bis vier Kilowatt, also 3.000 bis 4.000 Watt. Ein Laptop braucht deutlich weniger: 40 bis 100 Watt. Und eine Wallbox deutlich mehr, je nach Gerät zwischen 11 und 22 Kilowatt.“ Ganz schön viele Zahlen, die Melina Gurcke da aufführt. „Was wir sehen ist, dass der Energiebedarf unserer Gesellschaft steigt – der Trend geht immer weiter nach oben, nicht zuletzt, weil neue Verbraucher wie Ladesäulen für Elektroautos oder Wärmepumpen dazukommen“, erklärt sie. Die Energie muss natürlich auch erzeugt werden. Zum Glück werden erneuerbare Energien ausgebaut: Laut Umweltbundesamt ist der Gesamtanteil erneuerbarer Energien am Energieverbrauch (also Strom, Wärme und Verkehr) in Deutschland im vergangenen Jahr auf insgesamt 22 Prozent gestiegen. Im Jahr davor lag er bei 20,8 Prozent. Das entspricht laut der Arbeitsgruppe Erneuerbare Energien-Statistik des Umweltbundesamts 272 Terrawattstunden. So viel erneuerbarer Strom wurde in Deutschland noch nie erzeugt. Es ist davon auszugehen, dass der Anteil weiterhin steigen wird.
„Sonne, Wind und Wasser können wir nicht einfach ausstellen“
„Erstmal klingt es ja gut: Wir brauchen mehr Energie, erzeugen aber auch mehr – aber so einfach ist es leider nicht. Das Besondere am elektrischen Energiesystem: Strom ist in seiner Reinform nicht speicherbar, daher müssen Erzeugung und Verbrauch immer ausgeglichen sein, sonst kann es im System zu Schäden an Betriebsmitteln kommen“, erläutert Melina Gurcke: „Früher war das kein Problem. In der Zeit vor den erneuerbaren Energien konnte man die Stromerzeugung beispielsweise durch Kohlekraftwerke oder AKWs anpassen. Aber Sonne, Wind und Wasser können wir nicht einfach ausstellen. Und das wollen wir auch nicht! Wir wollen den Anteil an erneuerbaren Energien ja erhöhen, also muss sich nun der Verbrauch an die Erzeugung anpassen.“ Die Herausforderung: Durch erneuerbare Energien wird zu bestimmten Tageszeiten oder auch saisonal bedingt deutlich mehr Energie erzeugt als nötig, manchmal allerdings auch viel zu wenig.
„Das Besondere am elektrischen Energiesystem: Strom ist in seiner Reinform nicht speicherbar, daher müssen Erzeugung und Verbrauch immer ausgeglichen sein, sonst kann es im System zu Schäden an Betriebsmitteln kommen.“
Melina Gurcke, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Ein Beispiel: „An einem sonnigen Tag wird – so lange die Sonne scheint – Energie durch PV-Anlagen erzeugt. In den meisten Haushalten wird vormittags und mittags jedoch wenig Strom genutzt, da die meisten Menschen bei der Arbeit sind. Gegen Abend hingegen, wenn die Menschen nach Hause kommen, erhöht sich der Verbrauch in den Haushalten, die Sonne scheint dann jedoch meist nicht mehr oder nur noch sehr schwach. Dadurch kommt es über den Tag verteilt zu mehreren Leistungspeaks. Das stellt die Betreiber vor große Herausforderungen: sowohl Netzengpässe als auch Überlastungen im Netz.“ Das bedeutet, das Energiesystem muss nicht nur größer werden, sondern auch intelligenter. Das System aus Strom, Wärme, Gas und Mobilität ist sehr komplex und es gibt eine Vielzahl an Lösungen, die alle gemeinsam bedacht werden müssen. „Prognosen, also Vorhersagen, spielen hier eine zentrale Rolle, um den Verbrauch bestmöglich an die Erzeugung anzupassen und den Anteil der erneuerbaren Energien zu maximieren“, so die Expertin. Das Publikum stellt noch ein paar Fragen, die Diskussion dreht sich um Möglichkeiten, wie unsere Gesellschaft die Energiewende voranbringen kann.
Enge Zusammenarbeit mit der regionalen Wirtschaft
Kurz darauf läd Melina Gurcke ins Labor der Gruppe AGNES ein: ins Smart Energy Applications (SEAp) Lab. In AGNES erforschen die Wissenschaftler:innen Methoden und Verfahren zur sicheren und zuverlässigen Umsetzung der Energiewende. Unter der Leitung von Prof. Haubrock werden hier in verschiedenen Forschungsprojekten Lösungsmöglichkeiten untersucht für die Integration von Elektrofahrzeugen und regenerativen Energieanlagen in das elektrische Netz, die Einbindung intelligenter Netz- und Messtechnik, die Verwendung von KI-basierten Systemen für den Netzbetrieb und die Generierung von grünem Wasserstoff. Im Labor erklärt Gurcke das seit vielen Jahren bewährte Konzept des Teams: Im ersten Schritt erstellen die Wissenschaftler:innen Simulationen, um ihre Thesen in der Theorie zu prüfen. Anschließend wird im Labor am Hardware-in-the-Loop-Teststand getüftelt und – wenn alles läuft wie geplant – ein Feldversuch gestartet. Letzterer ist die Königsdisziplin, da es zahlreiche Regularien gibt, die zu beachten sind. Hier werden die Thesen und Ergebnisse aus der Theorie validiert. Dabei arbeitet das Team eng mit der regionalen Wirtschaft zusammen.
Zirkuläre Wertschöpfung ist zentraler Baustein beim Innovation Campus for Sustainable Solutions
Durch die Energiewende ist ein Ausbau der elektrischen Energieversorgungsinfrastrukturen notwendig, was sehr materialintensiv ist: Kupfer und Aluminium sind prominente Beispiele für Leitermaterialien, aber auch Keramik, spezielle Gase als Isolatoren und Kunststoffe werden benötigt.
An diesem Punkt kommt Melina Gurckes zweiter Job ins Spiel: Denn die Bielefelderin ist auch als Technologiescout im Transferprojekt InCamS@BI – Innovation Campus for Sustainable Solutions in der Forschungsgruppe „Zirkuläre Wertschöpfung“ tätig. Dort beschäftigt sie sich mit Fragen wie: Wie müssen elektrische Betriebsmittel beschaffen und konstruiert werden? Können Materialien ausgetauscht werden, um ressourcenschonend zu arbeiten? Können Teile erneuert werden? Ziel des Transferprojekts von HSBI und Universität Bielefeld ist es, Ideen für eine Circular Economy von Kunststoffen zu entwickeln und konkrete Einzelprojekte mit Unternehmen auf den Weg zu bringen. In diesem Rahmen hat Melina Gurcke gemeinsam mit ihren Kolleginnen aus dem ITES einen Technology Check für Unternehmen entwickelt. Mit dem Technology Check, kurz TechCheck, möchte das Team Unternehmen dabei helfen, ihre individuellen Ansatzpunkte für eine zirkuläre Wertschöpfung zu erfassen. Nach einer Ist-Analyse identifizieren die Expertinnen individuelle Handlungsfelder und entwickeln gemeinsam mit den Unternehmen Lösungsansätze. Auch durch Veranstaltungsformate wie das Barcamp Circular Economy in der Energieversorgung, das Gurcke federführend organisiert, Makeathons und Expert Panels gestaltet das Team aus dem ITES das Projekt InCamS@BI maßgeblich mit.
Professor Haubrock, der als Mentor im Projekt InCamS@BI eingebunden ist, und seine Doktorandin sehen die Energietechnik im Projekt noch aus einer anderen Perspektive: „Das Prinzip der Circular Economy basiert auf der Schonung von Rohstoffen, der effizienten Nutzung und einem gut durchdachten Lebenszyklus – von der Produktion über die Nutzungsphase bis hin zum Lebensende von Produkten“, erklärt Gurcke das Konzept. „In der Regel wird mindestens bei der Produktion Energie benötigt, bei elektrischen Geräten wie großen Anlagen aber auch bei Haushaltsgegenständen wie Wasserkochern natürlich insbesondere während der Nutzung und manchmal sogar abschließend beim Recycling. Dass die Energie dafür möglichst aus regenerativen Quellen kommen muss, ist zentral.“
Junge Wissenschaftler:innen arbeiten an der Energieversorgung von morgen
Ihre Begeisterung für Technik hatte die wissenschaftliche Mitarbeiterin schon zu Schulzeiten: „Für mich war klar, dass ich eine Naturwissenschaft oder ein technisches Fach studieren möchte. Die Wahl für die HSBI fiel der gebürtigen Bielefelderin leicht: „Ich bin mehr der Typ für praxisorientiertes Lernen in kleinen Gruppen – dafür war die Hochschule, die damals noch Fachhochschule hieß, perfekt.“ Auf der Webseite suchte sie nach zukunftsträchtigen Studiengängen und stieß auf Regenerative Energien. Da war klar: hier startet sie ihre Karriere. Mit Studiengängen wie „Regenerative Energien“ (Bachelor), „Elektrotechnik“ (Bachelor und Master) und Modulen wie „Zirkuläre Wertschöpfung“, „Smart Grids“ „Elektrische Energiespeicher und Brennstoffzellen“ oder „Photovoltaik“ tragen der Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik und die HSBI ihren Teil zum Energiesystem bei. Denn ohne die Berufstätigen von Morgen gibt es auch keine Energieversorgung morgen.
Die Forscherin Melina Gurcke hat ein klares Ziel vor Augen: „Ich möchte mit meiner Arbeit einen Beitrag leisten. Ich möchte sicherstellen, dass unsere Gesellschaft ihren Lebensstandard beibehalten kann – das bedeutet für mich weiterhin eine hohe Zuverlässigkeit und Versorgungssicherheit in Bezug auf unsere Energie. Aber eben nicht aus irgendwelchen Quellen, sondern regenerative Energien“, verrät Melina Gurcke ihre Motivation. Ihre Vorstellung von einem idealen Haus: „Eine PV-Anlage auf dem Dach, eine Ladeanlage für Elektrofahrzeuge vor der Tür, ein Batteriespeicher im Keller und eine Wärmepumpe nebendran.“ (gs)
Über InCamS@BI
Mit InCamS@BI, dem Innovation Campus for Sustainable Solutions, positioniert sich die HSBI als innovative Transferakteurin im Feld der Kreislaufwirtschaft. In dem fächerübergreifenden Projekt werden Ideen generiert und Lösungen entwickelt, um Kunststoffe und deren Handhabung für eine Kreislaufwirtschaft zu optimieren. Mit innovativen Formaten und einem interdisziplinären Team gestaltet InCamS@BI den Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. In dem Projekt werden forschungsbasierte Transferstrukturen systematisch entwickelt, aufgebaut und erprobt. InCamS@BI wird im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule” von 2023 bis 2027 gefördert.