24.09.2024

Mathe ist kein Netflix

Die Tagung „Mathematik in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen“ fand am 20. September erstmals an der Hochschule Bielefeld statt.

Die Workshop-Reihe „Mathematik in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen, (kurz: Ingmath)“ wurde im Jahr 2001 an der Hochschule Wismar gestartet. Inzwischen hat dieser Workshop zum 19. Mal an verschiedenen Standorten stattgefunden. Der Anlass für diese Reihe war eine allgemeine Unzufriedenheit mit den Vorkenntnissen vieler Ingenieurstudent:innen auf dem Gebiet der Mathematik und den daraus resultierenden Herausforderungen für die Hochschullehre. Die Reihe ist zu einer Plattform für Projekte in der Lehre und dem hochschulübergreifenden Austausch über moderne mathematische Methoden und hochschuldidaktische Fragestellungen geworden. Thematische Schwerpunkte sind unter anderem Angebote zur Förderung, die Schnittstelle Schule-Hochschule, neue Lehrmethoden, Digitalisierung in der Lehre und didaktische Konzepte. Zum Austausch über diese und weitere Themen in der Lehre waren 53 Interessierte von 15 Hochschulen und Universitäten nach Bielefeld gekommen. 

Mathe in unserer Gesellschaft

Prof. Joachim Waßmuth

Professorin Dr. Michaela Hoke, Vizepräsidentin für Studium und Lehre an der HSBI, begrüßte die Gäste auf dem Campus Bielefeld und stellte ihnen die Hochschule vor. Ihr folgte Prof. Dr. Joachim Waßmuth, Studiendekan am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik (IuM): „Ich bin der festen Überzeugung, dass wir die solide Grundlagenausbildung, bei der die Mathematik zweifellos eine entscheidende Rolle spielt, immer in den Vordergrund stellen sollten.“ Waßmuth machte auf das gesellschaftliche Phänomen aufmerksam, sich mit schlechten Leistungen in der Mathematik brüsten zu können. Eine Teilnehmerin erzählte von ähnlichen Erfahrungen, was das Problem der stetig sinkenden Mathematikkenntnisse der Studierenden zusätzlich befeuere.

Künstliche Intelligenz in der Lehre 

Hinzu komme die stetige Weiterentwicklung von ChatGPT, Claude Sonnet und anderen KI-Anwendungen. „Wozu soll ich Mathe lernen, wenn die KI es besser kann?“ Diese Frage eines imaginierten Studenten und dazu die mangelnde Motivation der Studierenden insgesamt sind Erfahrungen, die mehrere Teilnehmer:innen aufgrund ihrer Lehrerfahrungen teilen. „Um diese und andere Fragestellungen zu diskutieren, haben wir ein umfangreiches Tagungsprogramm zusammengestellt“, erklärt Veranstaltungsorganisator und Lehrender des Fachbereichs IuM, Professor Dr. Jörg Horst. 

Wertschätzung und persönlicher Einsatz zahlen sich aus

Keynote-Speaker Professor Dr. Jörn Loviscach berichtete in seinem Impulsvortrag „Mathe ist kein Netflix: Der Technikfalle in der Ingenieurmathematik-Lehre entkommen“, von seinen persönlichen Erfahrungen und dem Stand der Forschung: „Dass es ein Angebot gibt, heißt leider nicht, dass es in der gewünschten Weise genutzt wird. Meine Videos werden geliket, aber werden sie mit Sinn angeschaut, zum unterstützenden Lernen genutzt?“ Loviscach ist an der HSBI als Professor für Ingenieurmathematik und technische Informatik tätig. Bekanntheit erlangte er unter anderem durch seine Erklärvideos, die er unter anderem auf dem Videoportal YouTube zur Verfügung stellt und in seinen Unterricht integriert. „Die vermeintlich leichte Lösung funktioniert nicht und ich verrate Ihnen auch warum: Mathe ist kein Netflix“. 

Netflix vermittle biologisch primäre Inhalte, erklärte Loviscach: „Themen wie Beziehungen, Hass, Liebe und Gewalt flutschen quasi von allein ins Gehirn. Darauf sind wir Menschen gepolt. Im Gegensatz dazu haben wir die Mathematik nicht mit der Evolution gelernt“. Mathe und das akademische Lernen seien biologisch sekundäre Inhalte, deshalb sei es mit Anstrengung verbunden, diese zu lernen. Genauso verhalte es sich mit den Angeboten unserer Zeit. Nutzen wir die KI zum Lernen oder aber als Ghostwriter? Die persönlichen Grundvoraussetzungen der Studierenden seien änderbar, aber nicht schnell und leicht. Darüber hinaus sei es wichtig, sich als Lehrender einmal die Frage zu stellen, wie es sich anfühlt keine Professorin oder kein Professor zu sein. „Machen Sie den Selbsttest. Könnten Sie in jedem musischen oder sportlichen Bereich mit den Profis mithalten?“. Professor:innen sind in ihrem Element, und im täglichen Umgang mit der Mathematik geübt. Sie treffen auf Studienanfänger:innen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen. Zum einen ist das Bildungsniveau verschieden und zum anderen sind es die individuellen Ziele auch. Für Studierende ist die Mathematik häufig nur ein Teil ihrer ingenieurwissenschaftlichen Ausbildung. Empathie sei deshalb ein unverzichtbares Instrument im Umgang mit Studierenden. Loviscach kommt zu dem Schluss: „Selbst wenn Technik und Likes locken, müssen wir mit unserer Zeit sinnvoll haushalten. 100 Stunden investiert in persönliche Gespräche mit meinen Studierenden zahlen sich mehr aus als 100 in Videoschnitt investierte Stunden“, und eröffnete damit die anschließende Diskussion.

Anpassung der Lernmethoden 

HSBI-Professor Dr. Hans Brandt-Pook moderierte den lebhaften Austausch und zahlreichen Wortbeiträge während der Diskussionsrunde. Bieten Präsenzveranstaltungen etwas, das Maschinen nicht leisten können? Inwieweit integrieren wir KI in unsere Lehre und können wir gleichzeitig verlangen, dass die Studierenden sie nicht nutzen, sondern selbst rechnen. Wird der persönliche Einsatz des Lehrenden wertgeschätzt? Welches Wissen ist überflüssig? Wo können wir gegebenenfalls Inhalte streichen? Diese und andere Fragen beschäftigten das Plenum. 

Vortragsreihe der Tagung 

Die anschließende Vortragsreihe von Lehrenden der teilnehmenden Universitäten und Hochschulen beschäftigte sich unter anderem mit dem Einsatz von Vor- und Brückenkursen in der Mathematiklehre, der Unterrichtsmethode Inverted Classroom, dem Einsatz von Online-Tools und der gesteigerten Motivation der Studierenden durch Praxisbezug. Schwerpunktthemen waren dabei zum einen der Umgang mit Unterschieden – vom Ausgangsniveau der Erstsemester bis hin zur Prüfungsgestaltung. Zum anderen wurde über die Grenzen des Praxisbezugs in der Mathematik und die Möglichkeit des Einsatzes von Fallstudien berichtet. Ziel sei es, die Relevanz für die spätere Berufspraxis herauszustellen. Darüber hinaus wurden unterschiedliche Methoden des technologieunterstützten Lernens vorgestellt. Diskutiert wurde, inwieweit der Einsatz von Software, Visualisierungen und digitalen Tools den Unterricht verbessern kann. Auch über eine Neuordnung der Ingenieurmathematik wurde laut nachgedacht: „Was ist für die Berufspraxis relevant und welche Themen sind weniger zentral?“. In einem Punkt war man sich einig: Auch wenn KI, Taschenrechner und Computerprogramme immer besser Daten auswerten, mathematische Algorithmen programmieren und sogar Textaufgaben lösen, stehe fest: Die Mathematik wird dadurch nicht einfacher, denn nun bleiben nur noch die kniffligen Aufgaben für den Menschen übrig. (th)

Gruppenfoto der Teilnehmer


Impulsvortrag Prof. Jörn Loviscach
 (Mitschnitt)

Weitere Vorträge der 19. Tagung 
  • Prof. Dr. Christian Kautz, TU Hamburg
    Vor- und Brückenkurse in der Mathematiklehre

  • Prof. Dr. Bahne Christiansen, Nordakademie-Hochschule der Wirtschaft, Elmshorn
    Prof. Dr. Thomas Grätsch, HAW Hamburg
    Inverted Classroom und Videobasierte Lehre

  • Prof. Dr. Torsten-Karl Strempel, Hochschule Darmstadt
    Mathematik mit CAS und KI

  • Prof. Dr. Jörg Wenz, Hochschule Hamm-Lippstadt
    Erhöhung der Motivation von Studierenden durch Praxisbezug

  • Prof. Dr. Heiko Knospe, Patricia Graf, Andreas Schwenk, TH Köln
    Der Einsatz von Online-Aufgaben für die digitale Hochschullehre in Mathematik

  • Prof. Dr. Katharina Best, Hochschule Hamm-Lippstadt
    Datenanalyse - Es gibt doch KI

  • Dr. Christian Seifert, Technische Universität Hamburg
    Das Online-Selbstlern-Tool pntfx: Lernen mathematischer Zusammenhänge mittels Vernetzungsgraphen und Analyse des Nutzer:innenverhaltens