15.02.2024

Wirtschaftspsychologen der HSBI untersuchten Krisenkommunikation nach Anschlägen mit islamistischem Hintergrund

Gerrit Hirschfeld am Eyetracker
Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld betreute das gemeinsame Projekt von HSBI und Hochschule Bremen: OKAI steht für „Optimierte Krisenkommunikation nach Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in Deutschland“. © P. Pollmeier/HSBI
Elif Durmaz
Durmaz untersuchte im Wirtschaftspsychologischen Labor der HSBI mit ihrem Experiment, welchen Einfluss unterschiedliche Reaktionen muslimischer Organisationen auf Terroranschläge auf die Aufmerksamkeit von Rezipienten haben. © P. Pollmeier/HSBI
Stegemann Durmaz und Hirschfeld
Von links nach rechts: Prof. Dr. Manuel Stegemann, Elif Durmaz und Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld aus dem Fachbereich Wirtschaft, speziell der Wirtschaftspsychologie an. © P. Pollmeier/HSBI
Auswertung
Aus einer solchen Auswertung lesen die Experten, wie die Teilnehmenden den Inahlt der Artikel bewerten - differenziert nach den einzelnen Reaktionsstrategien und danach, ob es sich um muslimische oder nicht muslimische Teilnehmende handelt. © P. Pollmeier/HSBI
Fensterscheibe im Wirtschaftspsychologischen Labor
Der Einwegspiegel zwischen dem Untersuchungs- und dem Beobachtungsraum gewährleistet, dass die Testpersonen während der Beobachtung nicht gestört oder beeinflusst werden. © P. Pollmeier/HSBI
Im Wirtschaftspsychologischen Labor der HSBI untersuchten Forschende die Reaktionen von Leserinnen und Lesern auf Zeitungsartikel, um Empfehlungen für die Krisenkommunikation muslimischer Organisationen nach terroristischen Angriffen in Deutschland zu erarbeiten.

Bielefeld (hsbi). „Islamistischer Terror in Berlin: Anschlag mit sechs Todesopfern erschüttert die Hauptstadt“ – so beginnt ein Artikel, den Eliza Starke am Computer liest. Dabei ist sie jedoch nicht allein: Über dem Bildschirm befindet sich eine kleine Kamera, ein sogenanntes Eyetracking-Instrument, das jeden ihrer Blicke verfolgt und aufzeichnet. Gleichzeitig wird sie von Elif Durmaz, einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin der Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Bielefeld (HSBI), beobachtet. „Bei den Terroristen handelt es sich um drei Männer mittleren Alters arabischer Herkunft“, heißt es im Text. Und: „Das Attentat verurteilt der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. aufs Schärfste.“ Der Artikel ist authentisch geschrieben – aber ein Fake.

Beginn im April 2023: Start der Studie im Labor

Elif Durmaz untersuchte im vergangenen Jahr im Wirtschaftspsychologischen Labor der HSBI mit solchen Experimenten, welchen Einfluss unterschiedliche Reaktionen muslimischer Organisationen auf Terroranschläge auf die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen und Rezipienten haben. An diesem Tag im April hatte sie jedoch keine „normale“ Probandin zu Gast, sondern Eliza Starke – ebenfalls Mitarbeiterin im Fachbereich Wirtschaft, genauer gesagt im Transferprojekt InCamS@BI – Innovation Campus for Sustainable Solutions. Die Doktorandin Starke bekam einen Einblick in die Forschungsweise des Labors, die sie für ihre eigene Arbeit nutzen möchte.

Auswertung des Eyetrackers
Die Ergebnisse des Eyetrackers zeigen in einer sogenannten Heatmap, auf welchen Stellen die Augen der Proband*innen länger verweilten (rot). Die grünen Bereiche wurden eher überflogen. © P. Pollmeier/HSBI

Durmaz hat Erziehungswissenschaften in Bielefeld studiert und in Bonn zum Thema Mädchenarbeit geforscht. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sich die gebürtige Kölnerin mit Radikalisierung auf Onlineplattformen und Chatprogrammen in Verknüpfung mit der Theorie der sozialen Anerkennung. „Mein Wissen über Radikalisierung und Extremismus ist sehr hilfreich für die Studie, die ich im Projekt OKAI an der HSBI durchgeführt habe“, erzählt Durmaz, die während der Projektlaufzeit an der HSBI tätig war.

Islamistische Terroranschläge haben weitreichende Folgen – auch für in Deutschland lebenden Muslime

Stegemann Durmaz und Hirschfeld
Elif Durmaz (Mitte) und Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld (rechts) zeigen die Ergebnisse ihrem Kollegen Prof. Dr. Manuel Stegemann (links), der ebenfalls im Fachgebiet Wirtschaftspsychologie forscht und lehrt.

OKAI ist ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördertes Kooperationsprojekt mit der Hochschule Bremen und steht für „Optimierte Krisenkommunikation nach Anschlägen mit islamistischem Hintergrund in Deutschland“. Das Projekt wurde 2023 erfolgreich abgeschlossen. Betreut hat es Prof. Dr. Gerrit Hirschfeld, der als Psychologe seit 2019 an der HSBI forscht und lehrt. Besondere Relevanz hat das Thema nicht nur, weil Terror mit islamistischem Hintergrund für die unmittelbaren Opfer und ihre Angehörigen weitreichende Folgen hat, sondern auch, weil die Gewalttaten, so die These der Forschenden, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das sich Ausgrenzung von Muslimen in Deutschland generell verstärkt und sich diese Bevölkerungsgruppe zunehmend von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft entfremdet. Die Gründe dafür liegen unter anderem in der Angst und den Vorurteilen, die solche Anschläge bei Teilen der Bevölkerung auslösen und verstärken. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Darstellung der Anschläge und Reaktionen in den Medien.

„Die Einstellung ist positiver, wenn die muslimische Organisation eine Stellungnahme veröffentlicht hat, als wenn sie keine Stellungnahme abgibt.“

Elif Durmaz, wissenschaftliche Mitarbeiterin

„In dem Projekt wollten wir Handlungsempfehlungen für muslimische Organisationen erarbeiten, die ihnen bei der Krisenkommunikation helfen“, erläutert Durmaz. „Dafür haben wir fiktive Artikel über islamistische und islamophobe Angriffe geschrieben, ebenso wie positive und negative Berichte über Muslime und diese zwischen weiteren Artikeln zur Ablenkung ‚versteckt‘. Die Ablenkungstexte thematisierten unter anderem das Teilen von Netflix-Acccounts und verkaufsoffene Sonntage.“

Zurück ins Labor: Der Eyetracker verfolgt  die Augenbewegungen der Studienteilnehmerin. Durmaz erklärt das Vorgehen: „Unsere Probenanden wissen vorher nicht, worum es bei der Studie geht. Ich lasse sie alle Artikel in Ruhe lesen, das dauert meist etwa eine halbe Stunde. Wenn sie mit dem Lesen fertig sind, beantworten die Teilnehmenden noch einen Fragebogen.“ Anschließend fängt für Durmaz die Arbeit an: Dann sichert sie die Daten, wertet die Fragebögen aus und speist die Aufzeichnungen aus dem Eyetracker in ihre Datenbank ein. Die Forschungsfrage, die Durmaz beantworten möchte, lautet: Beeinflusst eine Stellungnahme einer muslimischen Organisation über einen Anschlag, ob sich die Leserinnen und Leser länger einem positiven oder negativen Bericht über Muslime widmen?

Abschluss im Oktober 2023: Einstellung positiv beeinflussen

Elif Durmaz
Die gebürtige Kölnerin Elif Durmaz forschte von 2020 bis 2023 in Bielefeld an der HSBI.

Zeitsprung: Im Oktober 2023 ist die Empiriephase der Eyetracking-Studie von Durmaz abgeschlossen. Gemeinsam mit ihrem Team analysierte sie die Daten der insgesamt 202 Probandinnen und Probanden und veröffentlichte die Ergebnisse der Studie im Fachmagazin International Journal of Strategic Communication. „Wir sehen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung gegenüber der muslimischen Organisation und den Reaktionsstrategien gibt: Die Einstellung ist positiver, wenn die muslimische Organisation eine Stellungnahme veröffentlicht hat, als wenn sie keine Stellungnahme abgibt.“ Dabei sind laut Durmaz die Strategien „Denial“ (Verantwortung für die Krise wird abgelehnt) und „Diminish“ (Verantwortung für die Krise wird auf weitere Faktoren geschoben) auffällig und führen zu einer positiveren Einschätzung der muslimischen Organisation. Und: „Je weniger der negative Artikel gelesen wurde, desto positiver war die Einstellung gegenüber muslimischen Akteuren. Andersrum kann man auch sagen, je positiver die Einstellung zur muslimischen Organisation war, desto weniger wurde auf den negativen Artikel geschaut.“

Eine der noch zu erarbeitenden Handlungsempfehlungen lautet also: Muslimische Organisationen sollten eine Stellungnahme zu Terroranschlägen veröffentlichen, wenn sie eine positivere Einstellung erzeugen möchten. Eine erste Publikation der Ergebnisse in einem Fachmagazin gab es schon, eine weitere ist in Planung. Damit sind die Meilensteine im Projekt OKAI geschafft – und das Verhalten von Menschen ein kleines bisschen besser verstanden. (gs)

Das Wirtschaftspsychologische Labor

Präzise und zuverlässige Informationen über das Verhalten und Erleben von Menschen sind eine unverzichtbare Basis für erfolgreiche wirtschaftliche Entscheidungen. Die Räumlichkeiten des Wirtschaftspsychologischen Labors bieten die Möglichkeit, das Verhalten und Erleben von Mitarbeitenden und Führungskräften, Kundinnen und Konsumenten zu analysieren und zu verstehen – fernab vom betrieblichen Alltag. Im Labor untersuchen Forschende des Fachbereichs Wirtschaft aktuelle Fragen aus Wirtschaft und Verwaltung, in denen menschliches Verhalten und Erleben im Vordergrund steht. Auf Basis der Untersuchungsergebnisse werden Konsequenzen für unternehmerisches Handeln abgeleitet. Das Wirtschaftspsychologische Labor wurde 2010 eröffnet und 2022 modernisiert.

Publikation

Die Studie wurde im Rahmen des Forschungsprojekts OKAI durchgeführt. Die wissenschaftliche Publikation dazu hat das Team im Fachmagazin International Journal of Strategic Communication unter dem Titel Strategic Communication of Muslim Organizations in the Aftermath of Islamist Terrorist Attacks – a Qualitative Analysis from Germany veröffentlicht.

Weitere Informationen

Transferprojekt InCamS@BI
Bachelorstudiengang Wirtschaftspsychologie
Masterstudiengang Wirtschaftspsychologie
Fachbereich Wirtschaft
Wirtschaftspsychologisches Labor

Für weiteres Bildmaterial können Sie sich gerne an presse@hsbi.de wenden.