Projekt Heb@AR: Hebammen trainieren Notfälle an der FH Bielefeld in „Augmented-Reality“
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Nicht nur fachlich auf dem neuesten Stand der Wissenschaft, sondern auch fachdidaktisch: Im Studiengang Angewandte Hebammenwissenschaft sind Augmented-Reality-gestützte Übungen fest im Lehrplan verankert. Außerhalb von Forschungsprojekten ist das zurzeit einmalig in Deutschland und bietet zahlreiche Vorteile…
Bielefeld (fhb). Es ist still im Skills Lab der Hebammenwissenschaft, dem Labor für fachpraktische Übungen an der Fachhochschule Bielefeld. Bis auf ein leicht schepperndes, unregelmäßiges „Klonk“. Es ertönt aus einem der Smartphones, auf die eine Gruppe Studierender konzentriert schaut und tippt. Die angehenden Hebammen sind nicht etwa mit einem Messenger-Dienst oder Social-Media-Kanal beschäftigt. Nein, sie ziehen gerade eine Spritze auf! Rein virtuell. Eine Studentin hält ihr Smartphone über einen leeren Untersuchungstisch, dieser erscheint auf ihrem Display. Aber nicht nur das: Auf dem digitalen Tisch sind zudem medizinische Materialien wie Desinfektionsmittel, Einmal-Handschuhe, Trägerlösungen, Kanülen und ein Medikament zu sehen. Die Studierenden müssen alles in der richtigen Reihenfolge und Menge auswählen. Auch das Verfallsdatum der Flüssigkeiten muss geprüft werden. Kurze Überlegung, ein Tipp auf das Display: „Klonk“. Die Auswahl war richtig.
Das Forschungsprojekt „Augmented-Reality-gestütztes Lernen in der hochschulischen Hebammenausbildung“
„Wir sind mit der AR-Lösung ganz nah dran an der aktuellen Forschung und wollen die Chancen der Digitalisierung für die Hebammenausbildung unbedingt nutzen!“
Projektleiterin Prof. Dr. Annette Bernloehr
Möglich macht das virtuelle Lernen „Heb@AR“. Diese App ist das Herzstück eines aktuellen Forschungsprojekts zum Thema „Augmented-Reality-gestütztes Lernen in der hochschulischen Hebammenausbildung“, das als Verbundprojekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Es ist an der Hochschule für Gesundheit Bochum, der Hochschule Emden/Leer und der Ruhr-Universität Bochum angesiedelt und an den Hebammenstudiengang der Hochschule Gesundheit Bochum angebunden.
„Augmented Reality“ (AR) bedeutet so viel wie „erweiterte Realität“. Sie kommt bereits in unterschiedlichen Anwendungen zum Einsatz: Kunden von Einrichtungshäusern platzieren damit virtuell Möbel in der eigenen Wohnung, KFZ-Mechaniker lernen, wie bei einem neuen Modell ein Ersatzteil ausgetauscht werden kann. „Mit unserer App bilden wir Situationen und Szenarien der Hebammenarbeit auf dem Smartphone ab, auf die die Studierenden adäquat reagieren müssen“, erklärt Prof. Dr. Annette Bernloehr. „So können die Studierenden ihr vorher erworbenes Wissen anwenden und das korrekte Vorgehen einüben.“
Bernloehr ist eine der Leiterinnen des Forschungsprojekts und seit September vergangenen Jahres an der FH Bielefeld als Studiengangleiterin verantwortlich für den im Wintersemester gestarteten praxisintegrierten Bachelorstudiengang Angewandte Hebammenwissenschaft. Bernloehr hat die App sozusagen mit nach Bielefeld gebracht und dafür gesorgt, dass Augmented-Reality-gestützte Übungen als reguläre Lehrveranstaltungen im Curriculum und erstmals außerhalb eines Forschungsprojekts verankert sind.
Mit der AR-Lösung „ganz nah dran an der aktuellen Forschung“
Die Integration neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Lehre ist ein wichtiges Argument für die gesetzlich geforderte Akademisierung der Hebammenausbildung und Prof. Bernloehr ein besonderes Anliegen. Das gilt auch für die Fachdidaktik. „Wir sind mit der AR-Lösung ganz nah dran an der aktuellen Forschung und wollen die Chancen der Digitalisierung für die Hebammenausbildung unbedingt nutzen!“ so die Professorin. Dabei soll Heb@AR klassische Lehr- und Lernmethoden, die sich bewährt haben, nicht ersetzen, sondern ergänzen. Das notwendige theoretische Wissen wird zunächst in Vorlesungen vermittelt. Dann werden die Fertigkeiten mit klassischen Übungen im Skills Lab erlernt. Erst danach kommt die App zum Einsatz: Mit ihr können die Studierenden das vorab Gelernte anwenden und eigenverantwortlich orts- und zeitunabhängig weiter trainieren.
Schwierige und seltene Szenarien können in Ruhe trainiert werden
Dabei hat Heb@AR eine besondere Stärke: Die App macht besonders das Training schwieriger und seltener Situationen gut möglich. „Im Hebammenalltag sind Notfälle wie etwa die Reanimation eines Neugeborenen die Ausnahme. Es ist also äußerst unwahrscheinlich, dass unsere Studierenden in ihren Praxisphasen so viele Notfälle miterleben werden, dass sie Handlungssicherheit entwickeln können“, erklärt Bernloehr. Aber genau die ist gefragt, wenn es kritisch wird und die Situation fachkompetent und souverän zu bewältigen ist. Hier kommt die App ins Spiel: Mit ihr lassen sich Notfall-Szenarien abbilden und so lange virtuell trainieren, bis die standardisierten Abläufe „sitzen“ und jederzeit routiniert abgerufen werden können.
Je nach Szenario werden zusätzlich Modelle eingebunden, wie etwa eine Neugeborenen-Puppe. „Die Studierenden können mit der App auch alleine und quasi unbeobachtet durch eine Lehrperson üben und ausprobieren, bekommen aber trotzdem wertvolle Rückmeldungen zu ihrem Vorgehen“, beschreibt Bernloehr die Vorteile der Lernmethode, welche die Bochumer Studierenden während der Testphase bestätigt haben.
Sinnvolle Ergänzung von Theorie und klassischen Übungen, bevor es in die Praxis geht
Die AR-gestützten Übungen treffen offenbar auch in Bielefeld einen Nerv. Sieben Smartphones mit der App konnten Annette Bernloehr und ihr Team für den aktuellen Jahrgang mit rund 45 Studierenden zur Verfügung stellen – am Übungstag installierten aber fast alle der angehenden Hebammen „Heb@AR“ direkt auf ihrem privaten Gerät: In den App-Stores ist die Anwendung seit kurzem frei verfügbar.
Mit einfachen, rein virtuellen Szenarien wie der Bestimmung der Einzelteile des weiblichen Beckens geht es los. So wird gleichzeitig der Umgang mit der App spielerisch eingeübt. Den Studierenden gelingt der Einstieg intuitiv, Maya Krügermeier ist positiv überrascht: „Ich hätte nicht gedacht, wie gut es funktioniert und wie realistisch die Darstellungen sind. Als würden die Materialien tatsächlich auf dem Tisch stehen!“ Die 3D-Technik macht es möglich und bietet einen echten Mehrwert gegenüber dem Lehrbuch.
„Wir können zum Beispiel das Becken von allen Seiten betrachten, sogar von innen“, erzählt Jasmin Alt begeistert. Ohne Vorbereitung geht es aber nicht, sind sich alle einig: „Es war gut, dass wir durch die Vorlesungen und klassischen Übungen schon etwas Bescheid wussten.“ (uh)