Hebammenstudium an der FH: 25 Prozent Praxisanleitung sind gesetzlich festgeschrieben – ein Standortbesuch
Bei der Geburt des ersten Neujahrsbabys in OWL waren sie noch nicht dabei, aber nach den ersten drei Monaten Studium an der FH Bielefeld starten die angehenden Hebammen im Januar 2022 in den ersten Praxisteil ihres Studiums: Einen dieser Einsatzorte, die Frauenklinik St. Louise in Paderborn, hat Studiengangleiterin Prof. Dr. Annette Bernloehr vor kurzem besucht.
Bielefeld (fhb). Das erste Semester des praxisintegrierten Studiums der angewandten Hebammenwissenschaft an der Fachhochschule (FH) Bielefeld ist in vollem Gange. Noch bis Weihnachten ist für die 46 angehenden Hebammen Theorie und Praxis an der FH angesagt: Neben hebammenwissenschaftlichen Fragen und ersten praktischen Übungen im Skills Lab der FH werden auch medizinische, psychologische und ethische Themen behandelt. Auch die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens, wie z.B. das Recherchieren in Fachdatenbanken und die Literaturverwaltung sind Thema. Im neuen Jahr dann beginnt der erste Praxisteil in den beiden mit der Hochschule kooperierenden Praxiszentren für angewandte Hebammenwissenschaft (PZHW) in Minden und Paderborn. Hier sind die Studierenden angestellt und werden auch bezahlt.
Das PZHW Paderborn betreut 26 der 46 FH-Studierenden
Insgesamt 26 der 46 Studierenden haben einen Arbeitsvertrag beim PZHW Paderborn, das am dortigen St. Vincenz-Campus für Gesundheitsberufe und der dazugehörigen Frauenklinik St. Louise angesiedelt ist. FH-Studiengangleiterin Prof. Dr. Annette Bernloehr machte sich deswegen auf zu einem Antrittsbesuch an alter Wirkungsstätte: „Ich freue mich sehr über die Kooperation mit dem PZHW Paderborn und auch mit dem PZHW Minden. In Paderborn gibt es nicht nur den riesigen Erfahrungsschatz einer der größten und ältesten Hebammenschulen Deutschlands. Wissenschaftliche Erkenntnisse fließen in der dortigen Frauenklinik bereits seit Längerem in die Arbeit im Kreißsaal ein. Das wird unter anderem an der für Deutschland niedrigen Kaiserschnittrate von 24 Prozent deutlich – ein guter Wert, besonders für eine Level-1-Klinik. Der Bundesdurchschnitt liegt deutlich höher bei mittlerweile 30 Prozent“, so Bernloehr, die in Paderborn vor über zehn Jahren selbst als leitende Hebamme gearbeitet hat.
Hebammen an zentraler Stelle in St. Louise eingebunden
Zum Verständnis: Eine Level-1-Klinik ist ein Krankenhaus, das in der Lage ist, auch besonders schwierige geburtshilfliche und perinatale Herausforderungen anzunehmen. So werden in Paderborn unter anderem Früh- und Risikogeburten betreut, eine Neugeborenen-Intensivstation ist in unmittelbarer Nachbarschaft zum Kreißsaal vorhanden. Solche Standortfaktoren ziehen natürlich „Problemfälle“ an, was die Kaiserschnittrate normalerweise nach oben treiben würde. Nicht so in Paderborn, und das hat unter anderen damit zu tun, dass hier ein motiviertes und hoch kompetentes Team aus Hebammen und ärztlichen Geburtshelfern das Ziel verfolgt, spontane Geburten zu ermöglichen, auch wenn die Ausgangslage manchmal schwieriger sein sollte.
Vaginale Geburten bei Mehrlingen und bei Beckenendlagen
Geleitet wird das PZHW Paderborn von Michaela Bremsteller, erfahrene Hebamme, Berufspädagogin und Leiterin der früheren Hebammenschule am Standort. „Bei uns gibt es zahlreiche spontane Zwillings- und sogar Drillingsgeburten, weil wir das entsprechende Know-how aufgebaut haben. Auch Frauen mit Kindern in Beckenendlagen können bei uns vaginal gebären. Das sind alles keine Selbstverständlichkeiten, sondern im heutigen Klinikalltag wirklich Ausnahmen.“
Zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse stützen die Praxis
Prof. Bernloehr ergänzt: „In Paderborn werden neue Erkenntnisse, wie sie z.B. in der 2020 veröffentlichten Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin der deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft festgeschrieben sind, in der Praxis umgesetzt.“ Zum Beispiel die Erkenntnis, dass eine spontane Geburt in der Regel besser für die weitere gesundheitliche Entwicklung von Mutter und Kind ist, wenn ihr keine medizinischen Gründe entgegenstehen. Oder dass die Frau sich während der Geburt frei bewegen sollte und nicht per se liegen oder gar auf dem Rücken liegen muss. „Den Paderborner Kolleginnen geht es darum, jede Frau und jede Geburt individuell zu betrachten und nicht nach einem bestimmten Schema abzuhandeln“, so Bernloehr, die dabei immer wieder betont, dass auch das PZHW Minden ausgezeichnete Betreuung bietet. „Unsere Studierenden können sich freuen, dass ihre praktischen Studienphasen von den ebenso erfahrenen wie kundigen Kolleginnen in Minden und Paderborn begleitet werden.“
Gesetzlich festgeschrieben: 25 Prozent Praxisanleitung
Was Paderborn betrifft: Nicht alle 26 dort angesiedelten FH-Studierenden werden auch in Paderborn selbst mitarbeiten. Neben dem St. Josefs-Krankenhaus in Salzkotten, das ebenfalls vom St.-Vincenz-Orden betrieben wird, gibt es sieben weitere kooperierende Kliniken. Der Grund: Gemäß dem neuen Hebammengesetz müssen inzwischen 25 Prozent gezielte Praxisanleitung während der praktischen Studienphasen nachgewiesen werden. Es können aber nicht alle 26 Studierende in einem Kreißsaal in diesem Umfang angeleitet werden. „Wir als PZHW tragen die Verantwortung, dass der vordefinierte Umfang an Praxisanleitung in den Kliniken auch tatsächlich stattfindet“, so Bremsteller: „Wir bieten jetzt Fortbildungen für die Praxisanleiterinnen an und halten die Kooperationspartner mit allen Informationen up to date.“
Personal für die Anleitung in der Praxis erforderlich
Bremsteller und Bernloehr sind sich einig, dass die 25 Prozent Praxisanleitung, die das jüngste Hebammengesetz von 2020 vorschreibt, ein „totaler Gewinn“ sind. „Noch nie war die Praxisanleitung gesetzlich so konkret definiert, und daher gab es dafür auch keine entsprechenden Personalressourcen“, erläutert Bremsteller. „Die PZHW haben jetzt die Chance, die Praxiseinsätze sehr effektiv und konkret in Bezug auf die Lerninhalte für die Studierenden zu gestalten, und besitzen somit auch gute Argumente dafür, dass entsprechendes Personal bereitgestellt werden muss.“
Zahlreiche Vorteile der Akademisierung der Hebammenausbildung
Es gibt noch weitere Vorteile der Akademisierung der Hebammenausbildung mit festgeschriebener Praxisanleitung: Im EU-Ausland nämlich ist die bisherige Ausbildung schon seit geraumer Zeit nicht mehr anerkannt. „Es ist ein großer Wettbewerbsnachteil, wenn ich als Hebamme nur in Deutschland arbeiten darf“, so Bernloehr. „Wer dagegen künftig an der FH sein Studium als Bachelor abschließt, hat die Möglichkeit, auch in anderen europäischen Ländern zu arbeiten.“ Sie ist davon überzeugt, dass die Akademisierung darüber hinaus mehr wissenschaftlichen Nachwuchs hervorbringen und damit auch wichtige hebammenwissenschaftliche Forschung anstoßen wird.
Prof. Bernloehr ist eine der Pionierinnen in Deutschland
Auf diesem Gebiet ist die FH-Professorin eine der Pionierinnen hierzulande: Nach zwölf Jahren Praxis als Hebamme in Stuttgart und Paderborn promovierte Bernloehr in England an der University of Surrey, gewann mit ihrer Arbeit den Forschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin, arbeitete als Dozentin im Europäischen Masterstudiengang für Hebammenwissenschaft an der Medizinischen Hochschule Hannover und übernahm schließlich eine Professur für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit Bochum, die vor zehn Jahren als Pilotprojekt einen der ersten Hebammenstudiengänge in Deutschland anbot. Seit September ist Bernloehr nun Studiengangleiterin an der FH Bielefeld.
Qualitätssteigerung der Ausbildung, Versorgungssicherheit für die Region
Ihre Hauptbotschaft lautet: „Es funktioniert, Hebammen innerhalb eines Studiums auszubilden. Ich habe es selbst sechs Jahre lang an der Hochschule für Gesundheit Bochum erlebt und mitgestaltet. Aus den Studierenden werden praktisch tätige Hebammen, die wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis tragen und damit umfassend für diesen verantwortungsvollen Beruf ausgebildet sind. Wir können davon ausgehen, dass viele von ihnen nach dem Studium in der Region bleiben werden, sodass der Studiengang an der FH Bielefeld in erheblichem Maße dazu beiträgt, dass wir in OWL Versorgungssicherheit erzielen.“
Forschungsprojekt fürs Lernen mit dem Smartphone
Parallel zu ihren Aufgaben in Lehre und Organisation an der FH forscht die Professorin zurzeit zum Thema „Augmented Reality gestütztes Lernen in der hochschulischen Hebammenausbildung“, ein Verbundprojekt, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird. Bernloehr: „Bei diesem Projekt geht es unter anderem darum, dass wir per App auf dem Smartphone bestimmte Situationen abbilden, auf welche die Studierenden dann adäquat reagieren müssen und so in einem ersten Schritt zeigen können, dass sie das theoretisch erworbene Wissen auch anwenden können.“
Für die ersten Erfahrungen in der „richtigen“ Praxis, die für die FH-Studierenden ab Januar auf dem Programm steht, ist das jedoch keine Alternative. Es ist eine Ergänzung zum regulären Lernangebot, zu dem unter anderem Veranstaltungen wie Vorlesungen, Seminare und Übungen im Skills Lab gehören. Bremsteller: „Gemeinsam mit den Kolleginnen an der FH, in den kooperierenden Kliniken sowie in den Hebammenpraxen sind wir alle bereit, Verantwortung für das Hebammenstudium zu übernehmen.“ (lk)
Das Studium "Angewandte Hebammenwissenschaft (praxisintegriert)" bietet in sieben Semestern einen Wechsel von theoretischem Lernen in der Hochschule und praktischem Lernen in den geburtshilflichen Abteilungen der Kliniken, mit denen die Praxiszentren für angewandte Hebammenwissenschaft (PZHW) in Minden und Paderborn kooperieren. Die Lehre wird weitgehend in Form von seminaristischem Unterricht und praktischen Übungen im Skills Lab erbracht. Die Studierenden erhalten eine Vergütung.