Ausgezeichnete Promotion an der HSBI: Sandra Holtgreve hinterfragt in ihrer Doktorarbeit koloniale Strukturen im Sozialarbeitsstudium
Während ihres Bachelorstudiums an der Hochschule Bielefeld reist Sandra Holtgreve im Rahmen des Feldforschungsprojektes zur reflektierten Fremdheitserfahrung/ Global Social Work von Prof. Dr. Giebeler 2011 zum ersten Mal nach Ecuador. Die Faszination für das Land blieb, und so widmete sie sich in ihrer Dissertation der Rolle von Dekolonisierung in Hochschulausbildungen der Sozialen Arbeit in Ecuador, Mexiko und Deutschland. Ihre Arbeit erhielt nun den gemeinsamen Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und des Fachbereichstages Soziale Arbeit (FBTS).
Bielefeld (hsbi). Eine Entscheidung kann weitreichende Auswirkungen auf das weitere Leben haben. Für Sandra Holtgreve war das 2011 die Entscheidung für einen Auslandsaufenthalt während ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der Hochschule Bielefeld (HSBI). Durch die internationalen Forschungen ihrer HSBI-Professorin Dr. Cornelia Giebeler hätte sie viele Länder bereisen können, doch die Wahl fiel auf Ecuador: „Damals wollte ich an einen Ort reisen, an dem noch nicht so viele Studierende vor mir waren und sich noch nicht viel Routine mit ‚den Praktikant:innen aus Deutschland‘ entwickelt hatte“, erinnert sich die heute 35-Jährige.
Anderthalb Jahre bleibt Sandra Holtgreve damals in Ecuador, arbeitet dort im Ministerium für Soziales und betreibt Feldforschung im ecuadorianischen Hochland. Auch für ihr Masterstudium kehrte sie dorthin zurück. In ihrer kürzlich abgeschlossenen Promotion beschäftigte sie sich mit der Frage, welche Rolle Dekolonisierung im Sozialarbeitsstudium in Deutschland, Ecuador und Mexiko spielt. Hintergründe lieferten ihr dafür Expert:inneninterviews mit Hochschulangehörigen aller drei Länder. Ein Ergebnis der Arbeit: Auch widerständische Ideen zur Dekolonisierung können zur Routine werden. Damit dekolonisierendes Handeln auch langfristig widerständig bleibt, brauche es weniger eine eingeübte „Dekolonisierungsagenda“ als vielmehr eine kritische Auseinandersetzung mit den von Hochschule zu Hochschule unterschiedlichen institutionellen Strukturen und Prozessen.
Negative Auswirkungen der Kolonialgeschichte überwinden
Die lateinamerikanischen Länder Ecuador und Mexiko wurden im 16. Jahrhundert von Spanien kolonisiert, Mexiko erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1810, Ecuador 1821. Sandra Holtgreve: „Die Folgen der Kolonialisierung prägen kulturelle, politische und soziale Strukturen der Welt noch bis heute. Diese Strukturen haben weiterhin negative Auswirkungen auf die Gesellschaften, einschließlich sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Ausbeutung – und zwar überall, wenn auch nicht überall gleich.“ Zum Verständnis: Dekolonisierung zielt darauf ab, die negativen Auswirkungen der Kolonialisierung zu überwinden, um eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Nach gegenwärtigem Stand der Forschung sind wichtige Instrumente dafür die Stärkung der eigenen kulturellen Identität, die Förderung der Einbeziehung und Gleichberechtigung aller Bevölkerungsgruppen, die Aufarbeitung der kolonialen Geschichte und die Umgestaltung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Ob und inwieweit Dekolonisationsprozesse im Sozialarbeitsstudium behandelt und reflektiert werden – genau das untersuchte Sandra Holtgreve in ihrer Dissertation. Diese wurde im Rahmen eines kooperativen Promotionsvertrages mit der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld von ihrer Betreuerin an der HSBI, Prof. Dr. Cornelia Giebeler, von Beginn an begleitet, begutachtet und bewertet. Giebeler ist ihrerseits seit Jahrzehnten als Regionalforscherin für Lateinamerika aktiv und hat die Doktorarbeit Holtgreves aufgrund ihres ausgezeichneten Ergebnisses für den ersten gemeinsam ausgeschriebenen Dissertationspreis des Fachbereichstages Soziale Arbeit und der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit nominiert.
Für den Bachelor und Master in Ecuador
Holtgreve wählte bewusst Länder, die unterschiedliche Vergleichsebenen möglich machten: zwischen Europa und Lateinamerika, zwischen zwei lateinamerikanischen Ländern, und zwischen Orten im selben Land. Dabei kamen ihr die Erfahrungen vorangegangener Lateinamerika-Aufenthalte zu Gute: Im Juli 2011 reist Sandra Holtgreve im Rahmen ihres Projektpraktikums Global Social Work der Sozialen Arbeit an der HSBI zum ersten Mal nach Ecuador. Während ihres Praktikums im Ministerium für Soziales bei dem damaligen Leiter Prof. Dr. Chacon, Kooperationspartner von Prof. Dr. Giebeler, durchläuft sie wie etliche Studierende vor und nach ihr mehrere Abteilungen. „Die Arbeit, die mir damals viel Spaß gemacht hat, war im Jugendamt. Wir haben Familien begleitet und Hausbesuche gemacht, um so Rechte der Kinder und Jugendlichen zu schützen. Dabei ging es oft um die Beratung bei Alkohol- oder Drogenmissbrauch, aber auch um die Begleitung in Fällen von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Ich hatte aber auch Tätigkeiten, die in Deutschland für mich undenkbar waren wie zum Beispiel Ernährungsprogramme für ländliche, vor allem indigene Gemeinden oder die Evakuierung nach einem Vulkanausbruch“, so Holtgreve.
2012 kehrt Sandra Holtgreve nach Bielefeld zurück und schließt ihr Bachelorstudium ab. Lange in Deutschland verweilt sie allerdings nicht: Für ihr Masterstudium geht sie erneut ein Jahr nach Quito, Hauptstadt Ecuadors, und forscht zu transnationalen Familien. „Ich habe untersucht, wie Kinder und Jugendliche, die im Ausland großgeworden sind und dann Jahre später nach Ecuador zurück migrieren, die Idee von ‚Zuhause‘ verstehen und ihre Rückkehr dorthin erleben. Dieser Widerspruch, dass da junge Menschen in ein für sie fremdes Heimatland zurückkehren, in dem einige von ihnen noch nie zuvor waren, hat mich bewegt, gerade weil es für die meisten keine freie Entscheidung war.“ In den Gesprächen über (un)freiwillige Rückkehr und Identität sind für Holtgreve Themen zu Migration und globalen Zusammenhängen, aber auch Fragen von kolonialen Machtverhältnissen erfahrbar und greifbar geworden. „Gleichzeitig konnte ich mich in Quito noch einmal intensiver als bisher mit lateinamerikanischen Theorien der Sozial- und Kulturwissenschaften auseinandersetzen, in denen Kolonialismus einen wichtigen Platz einnimmt. Die Denk- und Sichtweisen haben mich fasziniert und inspiriert.“
Promotion: Wie relevant ist Kolonialität im Sozialarbeitsstudium?
Diese Fragen werden schließlich Bestandteil ihrer im November vergangenen Jahres mit summa cum laude bewerteten Promotion unter dem Titel „The Rise of World Counterculture. Semantics and Institutions of the Turn to Coloniality.“ Im Kontext von Sozialer Arbeit wird die Frage aufgeworfen, wie die Idee der „Dekolonisierung“ eigentlich mit Inhalt gefüllt wird und warum eine Verankerung im Lehrplan für Hochschulen an ganz unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft ist. Es hat sich zwar ein gemeinsames Dach unter diesem Überbegriff der Dekolonisierung gebildet, gleichzeitig gibt es aber verschiedene Bedeutungen.
Holtgreve: „Die Diskussion über die Dekolonisierung ist in den letzten fünfzehn Jahren zu einem globalen Phänomen geworden, was auch mit Bewegungen wie ‚Black Lives Matter‘ oder ,MeToo‘ zusammenhängt. Ich habe mich gefragt, wieso es trotz des regionsübergreifenden Aufschwungs post- und dekolonialer Ansätze manchen Hochschulen anscheinend leichter fällt, diese Ideen und Ansätze auch in Sozialarbeitsstudiengänge zu bringen, als anderen.“
Begegnung auf Augenhöhe oder Abkoppelung vom Westen?
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hat Sandra Holtgreve Inhalte aus Studiengängen aus Deutschland, Mexiko und Ecuador miteinander verglichen. Dafür befragte sie Hochschulpersonal, Lehrende und Expert:innen zur Studiengangsgestaltung nicht nur danach, welchen Platz Themen um „Kolonialismus“, „Kolonialität“, oder „Dekolonisierung“ in ihren Studiengängen einnehmen und inwieweit sie versuchen, diesen Inhalten Raum zu geben, sondern auch, was sie eigentlich genau unter diesen Begriffen verstehen.
Im Laufe der Forschung stellte Sandra Holtgreve fest, dass ihre Gesprächspartner:innen durchaus Unterschiedliches meinen können, wenn sie beispielsweise über Dekolonisierung sprechen: „Wo eine Person mit Dekolonisierung die Abkopplung und Distanz zu westlichen Kooperationspartnern verknüpfte, verstand eine andere es genau umgekehrt als aufeinander zugehen auf Augenhöhe“, so Holtgreve. Auch in den Curricula der Studiengänge gab es Unterschiede, die sie dann in Begriffslandkarten wortwörtlich sichtbar gemacht hat.
Einzelperson oder Institution: Wer stößt Wandel an?
Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Rolle von Institutionen und damit den unausgesprochenen Regeln und Erwartungshaltungen innerhalb von Hochschulen. Während viele Forschende die Bedeutung von Einzelpersonen betonen, die aus persönlichem Interesse und Engagement neue Studieninhalte vorantreiben, hebt Holtgreve hervor, dass vor allem aber auch institutionelle Zwänge und Normierungen einen entscheidenden Einfluss auf die Umsetzung dekolonisierender Ansätze haben.
Holtgreve: „Dieselbe Lehrperson mit demselben Wissen, derselben Motivation und Handlungen kann in Berlin ihr Wissen zu Dekolonisierung ganz anders in Bewegung bringen als im Süden Mexikos oder in einer Kleinstadt an der Küste Ecuadors – und das liegt an institutionellen Zusammenhängen und Organisationsgefügen. Einen Unterschied machen zum Beispiel Förderstrukturen: Hat eine Hochschule die Aussicht auf zusätzliche Fördergelder oder Zuspruch, weil sie Dekolonisierung thematisiert, erhöht das die Motivation. Erwartet sie umgekehrt Kürzungen, stärkere Kontrolle oder sogar Kündigungen und Drohungen, weil sie Dekolonisierung thematisiert, wird auch das sich im Studienplan zeigen.“
Holtgreve weiter: „Ein anderer Aspekt ist die Passung mit dem Gründungsmythos und Leitbild einer Hochschule: Je nachdem, wie gut Dekolonisierung zur Hochschulgeschichte und -agenda passen, die nach außen suggeriert werden sollen, taucht das Thema auch häufiger als Lehrbestandteil auf.“ Zuletzt spielt auch die internationale Ausrichtung einer Hochschule eine Rolle. Ein:e Gesprächspartner:in Holtgreves berichtete, ihre Hochschule habe nicht einmal eine:n Austauschstudierende:n und begründete so die geringe Anschlussfähigkeit der Dekolonisierungsideen. „An Hochschulen mit breiterer internationaler Kooperation oder den Ambitionen dazu fällt die Diskussion über Dekolonisierung dagegen auf fruchtbaren Boden“, so Holtgreve.
Zusammenfassend sagt sie: „In meiner Forschung zeigte sich, dass Inhalte um Dekolonisierung in Berlin und Quito etwas stärker vertreten waren. An beiden Orten stand Kolonialgeschichte bzw. indigenes Wissen auch mit auf der lokalpolitischen Agenda, und es gab stärkende Netzwerke. In Mexiko-Stadt und an der Küste Ecuadors in Manta fehlte hingegen solche Resonanz im lokalen Umfeld, und es gab zwar engagierte Personen, aber keine stärkende Community für diese Perspektiven.“
„Dekolonialisierungsagenda“ hinterfragen
„Wir müssen aufpassen, dass Ungleichgewichte, Deutungshoheiten und normativer Druck nicht zu einer Dekolonisierungsagenda führen, die zur Routineübung wird.“
Sandra Holtgreve
Holtgreves Ergebnisse zeigen, dass es eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen institutionellen Strukturen braucht, um langfristige Veränderungen hin zu einer inklusiveren und gerechteren Sozialarbeit zu ermöglichen. Wichtig sei dabei, die Forderungen aber nicht zu verallgemeinern. „Gerade jetzt, wo die Rufe laut werden, Soziale Arbeit zu ,dekolonisieren‘ halte ich es für dringend notwendig, die Sensibilität dafür zu behalten, dass diese Norm für manche Hochschulen aufgrund ihrer Organisationsbedingungen leichter zu erkämpfen ist. Wir müssen aufpassen, dass Ungleichgewichte, Deutungshoheiten und normativer Druck nicht zu einer Dekolonisierungsagenda führen, die zur Routineübung wird“, so Holtgreve, die kooperativ an der HSBI und der Universität Bielefeld promovierte und für ihre Arbeit nun den Dissertationspreis den gemeinsamen Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) und des Fachbereichstages Soziale Arbeit (FTBS) erhielt, mit dem zum ersten Mal hervorragende wissenschaftliche Leistungen im Feld der Sozialen Arbeit gewürdigt werden.
Gespür für das Fremdsein hilft im Beruf
Aktuell arbeitet Sandra Holtgreve als Sozialarbeiterin in der Koordinierenden Stelle des Kommunalen Integrationsmanagements für die Stadt Herford in einem Projekt, das Teilhabechancen für Menschen mit Einwanderungsgeschichte erhöhen soll. Das Wissen um Institutionen hilft ihr dabei genauso wie die Erfahrungen aus Ecuador: „Die Erfahrung, eine Zeitlang an einem Ort fremd gewesen zu sein, gibt mir im Berufsalltag ein besseres Gespür, dass manche Selbstverständlichkeiten für andere riesige Hürden sein können“, sagt sie. Sie weiß aber auch, dass dieser Vergleich Grenzen hat: „Ich habe mich freiwillig entschieden, einige Jahre in Ecuador zu leben, und hatte jederzeit die Möglichkeit zur Rückkehr – diese Entscheidungsfreiheit haben viele Menschen in meinem jetzigen Alltag nicht. Auch die Bilder im Kopf der Menschen, mit denen ich als ,Gringa‘, also weiß gelesene Deutsche, in Ecuador konfrontiert war, haben rein gar nichts mit den rassistischen Stereotypen im Kopf zu tun, denen schutzsuchende Menschen in Deutschland begegnen.“ (she)