Bielefeld (fhb). Und es gibt sie doch: die Erklärung des Phänomens, warum in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs die Arbeitslosenzahlen nicht zwangsläufig steigen müssen. In Deutschland war dies jüngst der Fall, und es gibt andere Volkswirtschaften, etwa die in den Niederlanden, Norwegen oder Japan, wo es nachweislich gelungen ist, den Arbeitsmarkt abzufedern. Ökonomin Prof. Dr. Vivian Carstensen vom Fachbereich Wirtschaft und Gesundheit hat eine Theorie entworfen, dieses "Beschäftigungswunder" verlässlich zu deuten. Und sie wurde unlängst eingeladen, ihre diesbezüglichen Forschungsergebnisse auf der Jahreskonferenz der renommierten Eastern Economic Association vorzustellen. Der betreffende Veranstaltungsblock stand unter der Federführung der European Union Studies Association (USA).
Mit ihrem Forschungsschwerpunkt zu Beschäftigungsentwicklung und Arbeitszeitkonten betritt Vivian Carstensen nach eigenen Angaben "Neuland". Im Mittelpunkt ihrer Überlegungen: eine wechselseitige Versicherung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, durch in der Regel längerfristige Arbeitsverträge Zeiten der Rezession ohne Entlassungen zu überstehen. Verabredet werden Arbeitsverträge, die so genannte "atmende Arbeitszeitkonten" vorsehen. Volle Auftragsbücher bedeuten dann Mehrarbeit oder eben Überstunden für einen begrenzten Zeitraum, nicht aber mehr Geld zum Monatsende. Denn das Zeitkonto soll mögliche Unterauslastungen wegen fehlender Arbeitsaufträge finanziell kompensieren helfen. Dann wird weniger gearbeitet, dennoch erhält der Arbeitnehmer sein ganz normales Entgelt. In der Praxis ist noch ein doppelter Boden eingebaut: bei betriebsbedingten Kündigungen wird für ein Arbeitszeit-Guthaben bares Geld ausgezahlt, bei Insolvenz werden diese Forderungen vorrangig behandelt. Sollte bis dahin weniger als die verabredete durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit auf dem Konto verbucht sein, muss der Arbeitnehmer keine Nachzahlung leisten. Vivian Carstensen: "Das ist ein Modell, mit dem die Tarifpartner auf beiden Seiten gut leben können und das Vertrauen schafft."
Mit dem von ihr entwickelten "stochastischen Ansatz anreizverträglicher Zeitkontensysteme" verspricht sie also "eine Win-Win-Situation für Beschäftigte und Unternehmen". "Weltweit einmalig", so Carstensen, erbringe dieser Ansatz "den formal-analytisch fundierten Beleg für die unerwartet günstige Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes im Zuge der Finanzmarktkrise". Er zeige, wie klug es sein könne, wichtige arbeitsmarktrelevante Entscheidungen auf dezentraler Ebene zu treffen, "woraus sich wiederum wichtige Schlüsse auch für andere Staaten ergeben können".
Wohlbegründete Prognosen über künftige Arbeitsmarktentwicklungen ließen sich auf dieser Grundlage demnach treffen. "Den Begriff des Beschäftigungswunders hält die Fachwelt keineswegs für übertrieben", sagt Carstensen. Und sie betont: "In Deutschland hat es mit diesen dezentralen, atmenden Konten funktioniert. Der Arbeitsmarkt konnte den erheblichen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts in der Krise nicht nur abfedern, also den erwarteten dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit vermeiden, sondern sogar zusätzliche Beschäftigung schaffen und einen Rückgang der Arbeitslosenquote verzeichnen." Umgekehrt bedeute dies allerdings auch, dass Reaktionen auf dem Arbeitsmarkt in Zeiten konjunkturellen Aufschwungs ebenfalls gemäßigt ausfielen, dann also zu Gunsten langfristiger Beschäftigungsbeziehungen bewusst Abstriche bei der Zahl von Neueinstellungen gemacht würden.
Professorin Carstensen hat seit 2009 an der FH Bielefeld eine Professur für Ökonomie, Management und Organisation inne. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover und wurde dort promoviert. Als Habilitationsstipendiatin der Deutschen Forschungsgesellschaft forschte sie im Bereich der Arbeitsorganisation, entwickelte und leitete das Konzept »Blended-Learning« für Praktikanten und Werksstudierende des Volkswagen Konzerns, arbeitete an einer konzernweiten Neustrukturierung der Personalentwicklung und Tarifstrukturen. Bevor Professorin Carstensen im Jahr 2003 ihre erste Vertretungsprofessur annahm, ging sie für Beratungs- und Forschungstätigkeiten zwei Monate an die Universitäten in Adelaide sowie in Sydney (Australien).