HSBI-Feldtest in Herford: Solarstrom von Privathaushalten kann leider lokal oft nicht genutzt werden und strapaziert dann das Netz – KI schafft Abhilfe
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Mit einem innovativen Ansatz begegnen Forschende der HSBI und der Universität Bielefeld den Herausforderungen der Energiewende: Ein Feldtest bei Privathaushalten in Herford hat gezeigt, dass mit Hilfe verteilter Künstlicher Intelligenz das Stromnetz sicher gesteuert werden kann. Denn zurzeit bringen Schwankungen, die durch die unregelmäßige Erzeugung von erneuerbarer Energie entstehen, das Netz lokal immer wieder an die Grenze seiner Belastbarkeit.
Bielefeld (hsbi). Auf den ersten Blick ein ganz normaler Kellerraum. An einer Wand stehen Waschmaschine und Trockner, gegenüber hängt der Sicherungskasten. Daneben: zwei Wechselrichter. Im Haushalt wird eine Photovoltaikanlage (PV) betrieben und Strom ins Stromnetz eingespeist. Dann wird es ungewöhnlicher: „Vorsicht gefährliche elektrische Spannung“ warnt ein Aufdruck auf einer signal-gelben Hülle über einem Gerät in der Ecke. Auf dem Tischchen davor liegt ein verkabeltes, verschlossenes gelbes Kästchen. Und weiter hinten summt leise ein kindsgroßer, aber unauffälliger grauer Kasten: Der Keller des Herforder Hauses ist Teil eines Feldlabors der Wissenschaft.
Stromnetz an der Grenze: Solarstrom gibt es nur manchmal, E-Autos verlangen auf einmal sehr viel Energie
Denn mit der Energiewende und dem Ausbau der dezentralen erneuerbaren Energieerzeugung wie zum Beispiel durch PV-Anlagen auf privaten Hausdächern haben sich die Anforderungen an die Stromnetze geändert. „Eine PV-Anlage erzeugt Strom abhängig vom Wetter und damit nicht so konstant und planbar wie herkömmliche Kraftwerke“, erklärt Katrin Schulte. Der nicht im Haus verbrauchte Strom wird in das Niederspannungsnetz eingespeist, an das die Privathaushalte angeschlossen sind. Auf der anderen Seite benötigen die Privathaushalte immer öfter eine große Leistung, zum Beispiel für das Laden von E-Autos. „Die starken Schwankungen bei Erzeugung und Verbrauch belasten das Stromnetz“, erläutert Schulte. „In unserem Projekt haben wir eine Lösung entwickelt, wie wir die Schwankungen lokal ausgleichen und so das Netz sicher steuern können.“ Nämlich mit Hilfe verteilter, also dezentral arbeitender Künstlicher Intelligenz (KI).
Internationale Arbeitsteilung zwischen Bielefeld und Grenoble
Dafür arbeiten die internationalen Projektpartner mit verschiedenen Schwerpunkten seit gut drei Jahren digital vernetzt zusammen. Die Université Grenoble Alpes und die Universität Bielefeld stellen die KI, wobei sich die Bielefelder um deren verteilten Einsatz kümmert, um das sogenannte Edge-Computing. „Das bedeutet, dass die Daten dezentral genau dort verarbeitet werden, wo sie erzeugt werden“, erklärt Timon Jungh. „Sie müssen nicht erst zu einer zentralen Verarbeitungsstelle verschickt werden. Das erhöht die Sicherheit und den Datenschutz, und nebenbei auch die Geschwindigkeit.“ Jungh ist Biomechatroniker (MA) an der Universität Bielefeld und forscht am Center for Cognitive Interaction Technology (CITEC) in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr.-Ing. Ulrich Rückert. Bei der Umsetzung im Feld helfen schließlich die Industriepartner Atos Worldgrid aus Frankreich und der Bereich „Technik - Netzdigitalisierung“ von Westfalen Weser Netz (WWN) in der Region.
Für den Anfang des Jahres gestarteten Feldtest hat WWN ein Gebiet in Herford ausgewählt. Hier wohnt Ulf Brandmeier. Ihm gehört besagter Kellerraum samt Haus und Photovoltaikanlage auf dem Dach. Als Schulte und Jungh Testhaushalte für ihr Projekt suchten, war für Brandmeier eine Teilnahme keine Frage: Zum einen wünschte er sich eine Speicherung der erzeugten Energie. Zum andern interessierte ihn, „wie man die Speicherung besser steuern und nutzen kann“. Denn aktuell verhält es sich so: „Vormittags wird in den Haushalten meist wenig Strom verbraucht, da viele nicht zu Hause sind, und der PV-Strom wird in der Batterie gespeichert“, berichtet Katrin Schulte. „Ist die Batterie voll, geht der Überschuss ins Netz. Gerade mittags, wenn besonders viel PV-Strom erzeugt wird, entstehen aber Spitzen, so viel Überschuss, dass das Netz ihn kaum mehr aufnehmen kann.“ Die Idee der Forschenden: die Speicherung durch intelligente Steuerung so verschieben, dass Spitzen vermieden werden, möglichst viel erneuerbare Energie genutzt werden kann und das Netz nicht überlastet wird.
Jeder Haushalt hat einen Edge-Controller erhalten – Datenverarbeitung für die Prognose vor Ort
Dafür haben Schulte und Jungh nicht nur in der Ortsnetzstation des Netzgebietes einen Edge-Controller platziert, sondern auch im Sicherungskasten von Ulf Brandmeier und den anderen Testhaushalten. Zuvor war mehrere Monate lang das Lastprofil des Haushalts aufgezeichnet worden, also Stromverbrauch und -erzeugung. „Mit den erhobenen Daten wurde dann die im Edge-Controller arbeitende KI trainiert“, erklärt Timon Jungh. In Kombination mit den vorausgesagten Wetterdaten kann sie jetzt – das ist der Clou – die Stromerzeugung über die PV-Anlage und den Verbrauch im Haushalt und im Ortsnetz prognostizieren.
Jeder Haushalt hat entsprechend einen individuell konfigurierten Edge-Controller erhalten, abgestimmt auf die unterschiedlichen Ausstattungen der Haushalte. „Der Controller steuert dann die geplante Ladung und Entladung des Batteriespeichers über den Tag“, berichtet Karin Schulte. „An einem sonnigen Tag wie heute wird der Batteriespeicher zum Beispiel nicht sofort voll aufgeladen, sondern es bleibt Platz für die Mittags-Spitzen. Auch die Versorgung der Nachbarhaushalte mit ‚überschüssigem‘ PV-Strom könnte so gesteuert werden.“ Eine netzdienliche Steuerung also, die das Stromnetz entlastet und für mehr PV-Strom im Netz sorgt.
Während Ulf Brandmeier am Rechner die Stromerzeugung seiner PV-Anlage überprüft, lesen Katrin Schulte und Timon Jungh aus den gesammelten Daten des Feldtests noch etwas anderes: „Unser Ansatz wirkt, wir konnten die prinzipielle Funktionalität nachweisen“, sagt Schulte zufrieden. „Mit Hilfe verteilter KI lässt sich eine netzdienliche Steuerung der Batterieladung erreichen.“ Was die flächendeckende Umsetzung angeht, sind die Forschenden allerdings realistisch. „Dafür braucht es noch ein variables System, das mit den unterschiedlichen Ausstattungen der Haushalte umgehen kann und die zeitaufwendige individuelle Abstimmung spart“, sagt Jungh. Schulte ergänzt: „Auch ein Geschäftsmodell ist nötig, das Anreize schafft für den Einbau eines Batteriespeichers und die eventuelle Versorgung der Nachbarn mit PV-Strom.“ Aber der erste, wichtige Schritt ist gemacht. Und auch wenn das Projekt bald erfolgreich abgeschlossen ist, das Thema lässt Katrin Schulte nicht los: „Es gibt schon Überlegungen zu Nachfolgeprojekten, um den Ansatz weiter auszubauen.“ (uh)