02.09.2024

Geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung: Anne Rauber forscht und lehrt an der HSBI zu Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen

Portrait von Anne Rauber
Anne Rauber leitet ein Seminar zu Verhütung als Menschenrecht an der HSBI. Sie hat Soziale Arbeit an der Fachhochschule Münster und Gender Studies an der Ruhr-Universität Bochum studiert. © P. Pollmeier/HSBI
Studierende in einem Seminarraum
Studierende aus dem Bachelorstudiengang Soziale Arbeit lernen, wie sie später im Berufsleben Jugendliche angemessen unterstützen können. © P. Pollmeier/HSBI
Powerpointpräsentation zum Seminar zu Verhütung als Menschenrecht
Besonders Mädchen werden in ihrer reproduktiven Selbstbestimmung eingeschränkt. Sie können sich entweder kostenfrei die Pille verschreiben lassen oder müssen tief in die Tasche greifen. © P. Pollmeier/HSBI
Studierende in einem Seminarraum
Thema des Seminars ist auch, ob es heutzutage noch erstrebenswert ist, Mutter zu werden. Die angehenden Sozialarbeiter:innen finden, dass die Verteilung von Care-Arbeit noch immer ungleich ist. © P. Pollmeier/HSBI
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Anne Raubers Dissertation wird Ende des Jahres beim Springer VS-Verlag in der Buchreihe „Geschlecht und Gesellschaft“ veröffentlicht. © P. Pollmeier/HSBI

Für ihre Dissertation hat Anne Rauber Mädchen und junge Frauen zum Thema Care-Arbeit und Verhütung befragt. Ihre Studie zeigt, dass junge Mädchen mehr „Sorgearbeit“ leisten müssen als Jungen. Das gilt in der Familie, aber auch in der Partnerschaft beim Thema Verhütung. An der Hochschule Bielefeld bringt Rauber angehenden Sozialarbeiter:innen und Pädagog:innen bei, Mädchen in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen und Rollenerwartungen aufzubrechen.

Bielefeld (hsbi). An der Tafel im Seminarraum B239 stehen sich ein lächelndes und ein traurig schauendes Gesicht gegenüber, verbunden durch einen langen Strich in der Mitte. Zehn Studierende des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit treten mit zwei verschieden farbigen Post-its heran und kleben sie auf das Tafelbild. Die Fragen des Tages sind: „Hat sich die Rolle der Frau in der Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert?“ und „Ist es heutzutage noch erstrebenswert, Mutter zu werden?“ Die Studierenden treten an die Tafel heran und verteilen ein Post-it für jede der Fragen, um ihre persönliche Einschätzung abzugeben. Anne Rauber hält hier gerade eines ihrer Seminare ab. Sie ist seit Anfang des Jahres neu am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Bielefeld (HSBI). In ihrer Dissertation hat sich Rauber mit den gesellschaftlichen Anforderungen an junge Mädchen aufgrund ihres Geschlechts beschäftigt. Das Thema ihrer Arbeit lautet „Caring Girlhood – Verhütung als Sorgearbeit von Mädchen“.

Beim Erwachsenwerden formen Kinder und Jugendliche ihre eigene Identität und Sexualität. Auf dem Weg dahin werden sie schon früh mit gesellschaftlichen Erwartungen konfrontiert. Und genau dort setzt Raubers Forschung an. Sie ist der Frage nachgegangen, ob und inwiefern Mädchen bereits in jungen Jahren sogenannte Care-Arbeit verrichten. „Care“, das heißt in diesem Zusammenhang: Aufgaben, die keineswegs nur sie selbst betreffen, für andere, die sich aber nicht zuständig fühlen, mitzudenken, zu organisieren und diese in der Regel dann auch zu erledigen. Ein „Klassiker“ in diesem Feld ist die Rolle der Mutter als diejenige, die sich in erster Linie um die Erledigungen in der Familie kümmert.

Powerpointpräsentation zur reproduktiven Selbstbestimmung
Sozialarbeiter:innen müssen eine sozialarbeiterische Haltung zum Thema Sexualität bei Jugendlichen entwickeln, findet Anne Rauber.

Anne Rauber jedoch hat ein Thema in den Blick genommen, das vielleicht nicht auf den ersten Blick ein Aspekt der Care-Arbeit ist: die Arbeit, die Mädchen auf sich nehmen, um sich um Verhütung zu kümmern. Für ihre qualitative Studie hat sie 55 Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 22 Jahren befragt, aufgeteilt auf zehn Gruppendiskussionen. Bei den Diskussionen hat sie den Teilnehmerinnen sogenannte Stimuli-Materialien gegeben, wie zum Beispiel Fragekarten und Modelle von Verhütungsmitteln, damit die Gespräche gut in Gang kommen konnten. Die Diskussionsrunden fanden oft in Schulen statt. Um Probandinnen zu finden, hat sie bei sozialpädagogischen Veranstaltungen hospitiert.

Schon Mädchen verrichten mehr Care-Arbeit als Jungen

Um sich dem Thema der Care-Arbeit im Bereich Sexualität zu nähern, ist Anne Rauber erst einmal einen Schritt zurückgegangen: „Wir kennen mittlerweile alle den Ausdruck „Gender Pay Gap“ als einen zentralen Indikator für die ungleiche Bezahlung bei gleicher Tätigkeit zwischen Frauen und Männern“, erläutert die Sozialwissenschaftlerin. „Doch Ungleichheiten gibt es nicht nur dort. Meine Forschung setzt beim „Gender Care Gap“ an. Dieser „Gap“ zeigt den unterschiedlichen Zeitaufwand an, den Frauen im Verhältnis zu Männern für die täglich anfallende Arbeit im Haushalt, die Betreuung von Kindern, die Pflege von Angehörigen oder auch für ehrenamtliches Engagement verrichten – und das unentgeltlich.“ In der Tat: „Neueste Zahlen des Statistischen Bundesamtes zeigen, dass Frauen im Jahr 2022 pro Woche rund neun Stunden mehr unbezahlte Arbeit geleistet haben als Männer.

Studierende vor einem Tafelbild
In einer Seminaraufgabe bewerten die Studierenden, ob sich die Verteilung der Care-Arbeit zwischen Mann und Frau in der heutigen Zeit verbessert hat. Dazu kleben sie ein Post-it auf die Linie zwischen den beiden Gesichtern.

Diese ungleiche Aufteilung der Care-Arbeit sieht Rauber bereits in jungen Jahren. Junge Menschen, also Kinder und Jugendliche, würden allenfalls als Adressat:innen und Empfänger:innen, aber nicht als Ausübende von Care-Arbeit verstanden. „Die von jungen Menschen verrichtete Care-Arbeit wird nicht gesehen. Wir reden bei ihnen immer nur von Mit- und Zuarbeit im Haushalt.“ Doch auch zwischen Mädchen und Jungen würde bereits unterschieden werden. Die Versorgung von Geschwistern werde überwiegend von Frauen an ihre Töchter delegiert, während Jungen nicht in gleicher Weise in alltägliche Care-Tätigkeiten eingebunden würden, so Rauber. Gleiches gelte für das Thema Sexualität und Verhütung.

Verhütung wird zur Care-Arbeit für junge Mädchen

„Mädchen werden bei der Wahl eines Verhütungsmittels in ihrer reproduktiven Selbstbestimmung eingeschränkt.“

Anne Rauber

 Jugendliche machen oftmals während der Pubertät ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Junge Mädchen seien dabei angehalten, sich die Pille verschreiben zu lassen oder anderweitig zu verhüten. Doch sich um die Verhütung zu kümmern, kostet viel Zeit, etwa durch die immer wiederkehrende Verschreibung der Pille und den damit einhergehenden Arztterminen, das Warten, Planen, Sprechen vor Ort. Zudem investieren Mädchen Geld, denn auch, wenn Verhütungsmittel für Menschen bis zum 22 Lebensjahre von den Krankenkassen eigentlich finanziert werden sollten, trifft das nicht immer zu. „Wenn Mädchen ein anderes Verhütungsmittel als die Pille verschrieben bekommen wollen, fallen je nach Krankenkasse hohe Kosten an. Eine Spirale kostet zwischen 300 und 500 Euro“, erklärt Rauber. Mädchen sind also entweder auf ihre Eltern angewiesen oder müssen sich in ihrer reproduktiven Selbstbestimmung einschränken. „Und das in einer Zeit, in der andere Länder den kostenlosen Zugang zu allen Verhütungsmitteln umgesetzt haben. In Deutschland ist das leider noch nicht der Fall.“

Fast alle Verhütungsmittel sind für Mädchen und Frauen

Diskussion unter Studierenden
Im Zusammenhang mit Aufgaben innerhalb der Familie ist "Mental Load", also mentale Arbeit, auch ein Thema der Diskussion. Diese wird ebenfalls überwiegend von Mädchen und Frauen verrichtet.

Doch woran liegt das? „Ein zentraler Grund, warum Mädchen überhaupt diese Care-Arbeit verrichten, liegt auch in der ungleichen Auswahl an Verhütungsmitteln – es gibt für Jungen nur das Kondom, alle anderen Verhütungsmittel sind für Mädchen“, erörtert Rauber. Dadurch wird schon von Vornherein viel Verantwortung an Frauen abgegeben, obwohl es Verhütungsmittel wie die Pille für den Mann auch geben könnte. Zudem zeigt sich auch beim Thema Sexualität die Vorstellung von Geschlechterrollen. Anne Rauber: „In der Gesellschaft wird oftmals davon ausgegangen, dass es in der Natur der Frau liegt, diese Verantwortung, Emotionalität und auch den sogenannten „Mental Load“ zu übernehmen.“ Eine gleichberechtigte Verteilung der Verantwortung für die Verhütung zwischen Mädchen und Jungen ist nach wie vor nicht die Regel.

Mental Load beschreibt die mentale Arbeit, die auch bei der Verhütung gemacht werden muss: Etwa, in dem die Frau immer wieder an dieses Thema denken „muss“, es mit ihren Freund:innen und Partner:innen besprechen „muss“, mit ihren Eltern darüber diskutieren „muss“. Und oft ist es auch das Mädchen, dass andere Verhütungsmittel als die Pille bei ihrer Gynäkolog:in erkämpfen muss. „Aber diese Aufgabenverteilungen sind nicht natürlich bedingt und nicht vom Himmel gefallen, sondern sie werden gesellschaftlich gemacht.“

Sozialarbeiter:innen müssen Mädchen in ihrer Selbstbestimmung unterstützen

Angehende Sozialarbeiter:innen aus dem Bachelor Soziale Arbeit will Anne Rauber für solche Themen sensibilisieren. Sie gibt Seminare zu den Themen Care-Arbeit und reproduktive Selbstbestimmung. In der eingangs beschriebenen Diskussionsrunde zum Thema Care-Arbeit und Mutterwerden haben die Studierenden auch eine klare Haltung. „Frauen und Mädchen haben es noch immer schwer“, sagt Seminarteilnehmerin Gesa Dopmeyer. Es habe sich zwar schon einiges verändert, aber eben noch nicht genug: „Es ist aus meiner Sicht unter den aktuellen Voraussetzungen nicht erstrebenswert, Mutter zu werden. Klar, gibt es auch Männer, die in Elternzeit gehen, aber das ist immer noch eher die Ausnahme.“ Und auch das Tafelbild zeigt, dass der gesellschaftliche Wandel mit Blick auf Rollenerwartungen noch ausbaufähig ist: Die meisten Post-ist kleben ziemlich weit links, in der Nähe des traurig schauenden Gesichts.

Ein Tafelbild mit einem traurigen Gesicht
Die Ergebnisse der Seminaraufgabe zeigen, dass die Studierenden nicht zufrieden sind bei der Verteilung von Care-Arbeit.

Aus diesem Grund ist Rauber ihre Arbeit mit Studierenden an der HSBI so wichtig. „Fachkräfte sollten reflektiert damit umgehen, in welcher Lebensrealität Jugendliche, besonders Mädchen, sind. Wir müssen sie darin unterstützen, Themen anzusprechen und auf Missstände hinzuweisen statt alles als gegeben hinzunehmen.“ Besonders bei den Themen Sexualität, Verhütung und Schwangerschaft: „Je mehr Mädchen darin unterstützt werden, für ihre reproduktiven Rechte einzustehen, desto sichtbarer wird das Thema, und desto wahrscheinlicher wird es, dass sich dieser ,Gender Care Gap‘ irgendwann schließt. Die sexualpädagogische Forschung befindet sich an dieser Stelle in ihrem Etablierungsprozess und ich möchte einen Teil dazu beitragen.“ (sad)

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