Auf der Suche nach Antworten – die FH-Werkschau 2021
Experimentell und interdisziplinär: 55 Absolventinnen und Absolventen des Fachbereichs Gestaltung der FH Bielefeld verhandeln in ihren Abschlussarbeiten existenzielle Fragen des Lebens. Zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie findet die Werkschau wieder in der Lampingstraße statt.
Bielefeld (fhb). Zweimal im Jahr werden am Fachbereich Gestaltung der FH Bielefeld Bachelor- und Masterabschlussarbeiten in den vier Studienrichtungen „Mode“, „Fotografie und Bildmedien“, „Kommunikationsdesign“ und „Digital Media and Experiment“ ausgestellt. Die beiden vergangenen Werkschauen konnten aufgrund der Pandemie nur digital stattfinden. Dieses Mal jedoch ist die Werkschau wieder vor Ort zu sehen: Am Wochenende vom 11. und 12. September von 11 bis 17 Uhr können die Arbeiten im Fachbereichsgebäude in der Lampingstraße erkundet werden. Mit einem 3G-Nachweis stehen die Türen offen für einen Rundgang durch die Räume des Fachbereichs, welchen die Studierenden in eine Ausstellungsfläche, durchkreuzt von drei markierten Pfaden, verwandelt haben.
Existenzielle Fragen als Antriebsmotor der Kunst
„Bei dieser Werkschau gibt es bei den Abschlüssen keine Häufung von ‚Trendthemen’ zu sehen”, erklärt Prof. Dirk Fütterer, Dekan des Fachbereichs Gestaltung. „Die Ergebnisse widmen sich oftmals persönlichen Interessensgebieten und subjektiven Fragestellungen, was sich möglicherweise auch auf die zum Teil isolierende Studiersituation während der Pandemie zurückführen lässt. Umso mehr freue ich mich, dass die Werkschau dieses Mal wieder in Präsenz stattfindet und somit zugleich die Wiederaufnahme des regulären Studienbetriebs im Wintersemester 2021/22 ankündigt.”
Die unterschiedlichen Arbeiten der Absolventinnen und Absolventen beschäftigen sich mit wichtigen Fragen der Gegenwart, so zum Beispiel mit dem Thema Nachhaltigkeit. Wandelbare und nachhaltig gestaltete Modeproduktionen und vielseitig einsetzbares Mobiliar sind Reaktionen auf Ressourcenverschwendung und Klimawandel. Auch soziale Themen wie Ausgrenzung und Stigmatisierung werden behandelt. „Trotz all der Vielfalt ist auffällig, dass innerhalb der sehr unterschiedlichen Arbeiten doch immer wieder dieselben, existenziellen Fragen aufgeworfen werden: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wo gehören wir hin?“, resümiert Prof. Patricia Stolz, Prodekanin des Fachbereichs Gestaltung. „Die Vergänglichkeit des Lebens und der Versuch, unseren Platz darin zu finden, sind Ausgangsfragen für viele der präsentierten Werke.“ Stellvertretend für die gesamte Werkschau folgen vier Beispiele aus den verschiedenen Studienrichtungen:
Studienrichtung „Kommunikationsdesign“: Wo gehören wir hin? Der Platz des Menschen im Kosmos
Ein Blick in die unendlichen Weiten des Himmels ist immer unmittelbar mit der Frage nach dem Sinn der menschlichen Existenz verknüpft: Welche Rolle spielen wir in diesem unendlichen Universum? Mit der Bezugsgröße des Kosmos geht auch die vermeintliche Erkenntnis einher, dass unsere eigene Existenz womöglich von verschwindend geringer Bedeutung ist. Naheliegend ist da die Suche und Frage nach dem Göttlichen in Abgrenzung zur menschlichen Existenz. Roman Girsikorn, Masterabsolvent der Studienrichtung „Kommunikationsdesign“, hat in seiner Arbeit „Über den Menschen – Eine kosmische Anthologie“ genau diese Fragen bearbeitet: Wie ist die Beziehung des Menschen zu jenem weiten Raum? Wo ist der Platz des Menschen im Kosmos? Girsikorns Collagen kombinieren botanische und medizinische Motive aus der Aufklärungszeit, verfremden auf verstörende Weise römische Büsten mit Gedärm, lassen einen klassischen Torso im Firmament verschwinden und spielen mit (Stern-)Zeichen, Symbolen und Detailaufnahmen aus verschiedenen Epochen.
Studienrichtung „Digital Media and Experiment“: Data Science statt Prophezeiung und Orakel
Abstrakte, verpixelte Bilder in Neonfarben, ergänzt mit Programmiercode, darunter eine Weissagung, der man die Science-Fiction-Haftigkeit beim Lesen anhört: „You are destined to become a Consumer of exceptional Awareness!“ Julia Dolipski ist Masterabsolventin der Studienrichtung „Digital Media and Experiment“. Ihre Bilder aus der Installation „ML Pythia // Perceptive Machine“ kommentieren, wie oft wir heute Zahlen benötigen, bevor wir Entscheidungen treffen. Prognosen, Wahrscheinlichkeiten und Statistiken bestimmen unser Leben – in Zeiten von Corona mehr denn je. Wissenschaftliche Modelle, Simulationen und Statistik sind an die Stelle von Prophezeiungen getreten. Der Name der interaktiven Installation erinnert an das alte Griechenland und das Orakel von Delphi. Seine weissagende Priesterin trug den Namen Pythia. „So wie Pythia als Bindeglied zwischen dem Gott Apollo und den Menschen fungierte, sind künstliche neuronale Netze heute unsere Brücke in ein Meer von Daten, mit denen wir ohne die Techniken der Data Science nicht viel anzufangen wüssten“, so die Absolventin in ihrem Begleittext. „,ML Pythia // Perceptive Machine‘ macht den Übergang vom fotografischen Abbild zum operativen, maschinenlesbaren Bild erfahrbar und setzt den Betrachter der Urteilskraft der wahrnehmenden Maschine aus.“
Studienrichtung „Fotografie und Bildmedien“: Gesellschaftskritisch: abgeschoben an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung
Nora Wistof-Jebbara, Bachelorabsolventin der Studienrichtung Fotografie und Bildmedien, widmet sich in ihrer Arbeit den „Unsichtbaren der Städte“: obdachlosen Menschen, die nach ihrer Analyse zunehmend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden, obwohl sie doch allgegenwärtig sind für diejenigen, die durch die Straßen gehen. „Steine, Asphalt und Gemäuer bilden, vom Wetter gezeichnet, die Textur des öffentlichen Raumes. Mittendrin, geschützt von Stoffen, sind obdachlose Menschen dazu gezwungen, alles Private im öffentlichen Raum zu leben, und doch sind sie nicht Teil der öffentlichen Wahrnehmung“, heißt es im Begleittext zum Projekt. Und weiter: „Durch Stigmatisierung und Ausgrenzung werden sie an den Rand der Gesellschaft und aus dem Sichtfeld hinausgeschoben.“ Abdrücke im Stein und Asphalt der Fotografien symbolisieren diese Verdrängung menschlicher Existenzen und rücken sie ins Zentrum des Sichtfelds – damit ein Vorbeischauen nicht mehr möglich ist.
Studienrichtung „Mode“: Erinnerungen mit Nadel und Faden konservieren
Kann man Erinnerungen stricken? Sie durch Nadel und Garn ins Hier und Jetzt zurückholen? Bachelorabsolventin Muriel Vogt aus der Studienrichtung Mode hat genau das versucht. Erinnerungen sind für sie schön und schmerzhaft zugleich – schön, weil sie uns an unbeschwerte Zeiten erinnern, schmerzhaft, weil uns die Vergänglichkeit jener Momente überdeutlich bewusst wird. Ein Zurückholen von Menschen und Momenten scheint unmöglich – und doch versuchen wir immer wieder, Erinnerungen in Form von Fotoalben, Scrapbooks und Urlaubssouvenirs zu konservieren. Und mit Stricken lässt es sich auch versuchen: In ihrer Kollektion „SOUVENIRS“ geht die Absolventin unserer Erinnerungskultur nach und befasst sich mit der Sentimentalität, die durch die Betrachtung und Analyse von Urlaubsfotografien aus Familienfotoalben der 1970er und 1980er Jahre aufkommt. „Das Handwerk des Strickens soll als textiles Bindeglied zwischen Sentiment und Kleidung stehen und so dem Vergessen entgegenwirken. Die Maschen, die durch die einzelnen Verschlingungen eine komplexe Fläche ergeben, repräsentieren den Wunsch nach Erinnerung und Umschließen der festgehaltenen Urlaubsmomente“, heißt es in der Beschreibung der Arbeit.
Die Werkschau-Website bleibt bestehen
Auch wenn die Werkschau wieder in Präsenz stattfindet, präsentiert die Werkschau-Website weiterhin alle Abschlussarbeiten. Die aktuellen Arbeiten werden Anfang Oktober sichtbar sein. Vorbeischauen lohnt sich! (nhe)