Bielefeld (hsbi). Im vergangenen Wintersemester hat Prof. Dr. Claudia Cottin, Aktuarin DAV und Professorin am Fachbereich Ingenieurwissenschaften und Mathematik der Hochschule Bielefeld (HSBI), sich im Rahmen eines Forschungssemesters mit der Quantifizierung und mathematischen Modellierung von ESG-Risiken beschäftigt und wirkt daran anknüpfend derzeit in verschiedenen Arbeitsgruppen der International Actuarial Association (IAA) mit.
Die IAA ist ein Zusammenschluss von nationalen Aktuar-Vereinigungen, wie in Deutschland der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), und bietet Aktuaren und Aktuarinnen eine Plattform für die weltweite Zusammenarbeit an verschiedensten Themen. Allgemein quantifizieren und bewerten Aktuare und Aktuarinnen unter Einsatz vorrangig statistischer und mathematischer Methoden Risiken und finanzielle Unsicherheiten verschiedenster Art. Typischerweise arbeiten sie auf dem Gebiet der Altersversorgung, Versicherung und Kapitalanlage, aber zunehmend auch in weiteren Bereichen, beispielsweise dem Risikomanagement von Unternehmen außerhalb der Finanzdienstleistungsbranche. Zum besseren Verständnis des Tätigkeitsfelds von Aktuarinnen und Aktuaren sei erwähnt, dass für sie der Begriff Risiko im Allgemeinen nicht so negativ besetzt ist, wie es sonst weit verbreitet ist. Denn das bewusste Eingehen von Risiken, verbunden mit klugem Risikomanagement, birgt eben auch viele Chancen im unternehmerischen Bereich oder im Bereich von Finanzinvestitionen.
In den letzten Jahren ist für das Management von Unternehmen und Organisationen aller Art der Aspekt der Nachhaltigkeit immer wichtiger geworden, nicht nur, aber auch, angesichts der Bedrohungen durch den Klimawandel. Eine oft verwendete allgemeine Definition für Nachhaltigkeit stammt von der Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen (UN) aus dem Jahr 1987 und besagt, dass eine Entwicklung nachhaltig ist, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“. Um die Ziele der Globalen Nachhaltigkeitsagenda der UN von 2015, oder auch andere Nachhaltigkeitsziele, sowie damit verbundene Chancen und Risiken, genauer zu beschreiben, erfolgt oft eine Klassifizierung bzgl. der drei Kategorien E, S und G, für Englisch Environmental, Social und Governance, also Ziele in den Bereichen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, und das Akronym ESG wird bei der Beschreibung von Management- bzw. Investitionsansätzen oft geradezu synonym für Nachhaltigkeit benutzt.
Da es sich um ein Thema von weitreichender internationaler Bedeutung handelt, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch die IAA damit in verschiedenen Initiativen beschäftigt. Allerdings ist der Begriff ESG nicht vorrangig von Aktuaren geprägt worden, so dass unter anderem erst einmal einzuordnen ist, was an den so genannten Nachhaltigkeits- oder ESG-Risiken in Bezug auf die Risikobewertung überhaupt neu ist und wie dementsprechend bewährte Ansätze zur Risikomodellierung und -bewertung angewendet, weiterentwickelt und ergänzt werden sollten.
Ein konkretes Projekt, in dem Prof. Cottin innerhalb der IAA mitwirkt, ist die Entwicklung eines International Standards of Actuarial Practice (ISAPs) zum Thema IFRS S2. Bei den IFRS, also International Financial Reporting Standards, handelt es sich ursprünglich um internationale Rechnungslegungsvorschriften, die losgelöst von nationalen Rechtsvorschriften international vergleichbare Jahres- und Konzernabschlüsse von Unternehmen ermöglichen sollen. Ende 2021 beschloss die IFRS Foundation die Gründung eines International Sustainability Standard Board (ISSB), welches in Ergänzung zu den bereits bestehenden Rechnungslegungsstandards Standards für eine qualitativ hochwertige, transparente, zuverlässige und vergleichbare Berichterstattung von Unternehmen zu nachhaltigkeitsbezogenen Risiken und Chancen entwickeln soll. Mitte 2023 hat das ISSB seine ersten beiden Standards IFRS S1 und IFRS S2 veröffentlicht, wobei der Buchstabe „S“ für Sustainability (englisch für Nachhaltigkeit) steht. In den IFRS S1 geht es um verschiedene allgemeine Anforderungen an die Offenlegung von nachhaltigkeitsbezogenen Finanzinformationen, während sich die IFRS S2 speziell mit klimabezogenen Aspekten beschäftigen. Bei dem angesprochenen ISAP geht es also um Präzisierungen und besondere Anforderungen zur Identifikation, Bewertung und Offenlegung klimabezogener Risiken und Chancen im Rahmen der Berichterstattung gemäß dem Standard IFRS S2 aus aktuarieller Sicht.
Es ist ziemlich offensichtlich, dass klimabezogene Risiken für Aktuare und Aktuarinnen eine sehr wichtige Rolle spielen, denkt man etwa an die Versicherung von Schäden durch Naturgefahren, aber auch Einflüsse des Klimawandels auf die Sterblichkeit und die Verbreitung von Krankheiten mit entsprechenden Auswirkungen im Bereich der Renten-, Lebens- und Krankenversicherung. Klimabezogene Risiken sind aber nicht die einzigen relevanten Risiken im Bereich der E-, also umweltbezogenen, Risiken; beispielsweise sind Risiken aus dem Verlust der biologischen Vielfalt (Biodiversität) für Unternehmen zunehmend bedeutsam. Aber auch die Kategorie der S- und G-Risiken ist beinahe selbstredend von großer Bedeutung für Aktuare und Aktuarinnen. Denn die Absicherung gegen Lebensrisiken und die finanzielle Vorsorge gehört zu den Kernthemen im sozialen Bereich und eine gute Governance von Organisationen ist eng verknüpft mit deren Risikomanagement.
Wegen der weitreichenden Bedeutung von ESG- bzw. Nachhaltigkeitsrisiken hat die IAA vor kurzem beschlossen, nächstes Jahr in São Paulo, Brasilien, ein Joint Colloquium (JoCo), also ein gemeinsames Kolloquium, aller verschiedenen Sections (also in etwa: Fachbereiche) der IAA, mit dem Schwerpunktthema "Actuaries in Sustainability" durchzuführen. Auch dort wird Prof. Cottin an Fachbeiträgen zusammen mit Kollegen und Kolleginnen aus der IAA beteiligt sein. (cco/nba)